"Erst Regen, dann Kälte, dann Tod"

Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) warnt nach seinem Besuch im Nordirak eindringlich vor einer humanitären Katastrophe.

Foto: dpa

Krieg in Syrien, Terror im Irak — Hunderttausende Menschen sind vor den IS-Milizen auf der Flucht. Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) warnt vor einer humanitären Katastrophe. Insbesondere die Europäische Union müsse endlich mehr für die Flüchtlinge tun, sagt der Minister nach seinem Besuch im Nordirak im Interview mit unserer Zeitung.

Foto: Rainer Jensen/dpa (zu dpa "Drei Gründe, warum Linke und Grüne CSU-Minister Müller lieben" vom 23.09.2014) +++(c) dpa - Bildfunk+++

Herr Müller, wie dramatisch ist die Situation der Flüchtlinge im Nordirak?

Gerd Müller: Wir haben hier in Deutschland kaum Vorstellungen davon, wie die Situation vor Ort ist. Von 26 geplanten Flüchtlingscamps sind gerade mal acht fertiggestellt. Der Rest ist nur angedacht. Hunderttausende haben im Augenblick überhaupt keine Unterkunft. Und der Flüchtlingsdruck im Nordirak und in Kurdistan hat nicht nur durch den IS-Terror, sondern auch durch die Bombardierungen der US-geführten Koalition zugenommen.

Droht im nahenden Winter eine humanitäre Katastrophe?

Müller: Wir haben nur noch ein Zeitfenster von sechs Wochen. Erst kommt der Regen, dann kommt die Kälte — und dann kommt der Tod. Wir müssen deshalb jetzt schnell, effektiv und international abgestimmt handeln, damit die Menschen den Winter überleben.

Hat die internationale Gemeinschaft — und damit auch Deutschland — die Lage unterschätzt?

Müller: Nein. Es wird hervorragende Arbeit geleistet von allen Hilfsorganisationen. Das Camp, das ich besucht habe, ist innerhalb von acht Wochen für 10 000 Menschen aus dem Boden gestampft worden. Schneller ist das nicht zu schaffen. Aber der Zustrom der Flüchtlinge aus den IS-Gebieten ist massiv angeschwollen. Hier müssen wir handeln!

Was muss getan werden?

Müller: Es geht jetzt um Winterquartiere, um Essen. Wenn die Mittel nicht aufgestockt werden, müssen die Essensrationen gekürzt werden — auch für Säuglinge. Die Organisationen, vor allem Unicef, gehen bis ans menschlich Mögliche. Sie kümmern sich um Traumatisierte, um Vergewaltigte, um Folteropfer. Doch die Hilfen sind unterfinanziert. Deswegen brauchen wir eine sofortige Aufstockung der Mittel für das World Food Programm und für UNHCR.

Welche Rolle spielt die Europäische Union vor Ort?

Müller: Die EU findet bei dieser größten, humanitären Katas-trophe vor der Haustür Europas nicht statt. Ich fordere nicht, aber ich bitte den neuen EU-Kommissionspräsidenten Juncker eindringlich, einen Sonderkommissar zu benennen. Außerdem muss Europa zügig eine Sondermilliarde aus bestehenden Töpfen einsetzen, um das Leid der Flüchtlinge zu lindern.

Wird Deutschland seine Hilfe aufstocken?

Müller: Ja. Wir haben bereits im August für den Nordirak 20 Millionen Euro zusätzliche Mittel freigegeben. Wir müssen unsere Mittel erheblich aufstocken, um die Probleme zu bewältigen. Darüber werden die Haushalts- und Finanzpolitiker in den nächsten Wochen entscheiden.

Es wird viel darüber diskutiert, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Wie sehen Sie das?

Müller: Wir werden vor Ort ein deutsches Camp aufbauen mit Misereor, mit Unicef und anderen. Das ist die sinnvollste und schnellste Hilfe für die Menschen. Ich habe mit vielen Flüchtlingen geredet. Sie wollen nicht nach Deutschland oder nach Europa. Sie warten darauf, dass Sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren.