Europas Angst vor „Überfremdung“

Warum die EU-Bürger eine Flüchtlingswelle und deren wirtschaftliche Folgen fürchten.

Berlin. Als Tunesier und Ägypter Anfang des Jahres den Sturz ihrer Diktatoren feierten, jubelten die Europäer mit, fühlten sich an den „Berliner Moment“ der Wende erinnert. Doch angesichts vieler Flüchtlinge auf dem Weg nach Norden bleiben Europas Zugbrücken hochgezogen.

Politiker sprechen von einer Flüchtlings- „Welle“, einem -„Tsunami“ — als sei halb Nordafrika kurz davor, Europa zu überrennen. Die Angst vor Wirtschaftsflüchtlingen ist groß. Die Strategie: Abwehr.

„Die Politiker fürchten natürlich um ihre Wähler“, sagt der Berliner Völkerrechtler Tillmann Löhr. „Sie haben Sorge, dass zu viele Flüchtlinge kommen könnten.“ Die Vorstellung, Massen von Flüchtlingen könnten ins soziale Netz drängen und Versorgung erwarten, trifft viele Europäer an einem wunden Punkt.

Nichts fürchten auch die Deutschen laut einer aktuellen Studie so sehr wie den wirtschaftlichen Niedergang. Das halten Experten jedoch für völlig unbegründet. „Deutschland hat bisher immer enorm von der Zuwanderung profitiert“, sagt der Sozialethiker Wolf-Dieter Just.

Er glaubt, dass „irrationale Ängste“, eine Sorge vor „Überfremdung“, die Abwehrhaltung gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen bedingen. Für viele Europäer beginne am anderen Ufer des Mittelmeeres das „Morgenland“.

Der Vordere Orient mit beliebten Touristenzielen wie Tunesien ist für Europa schon seit zwei Jahrhunderten die absolute Verortung des Fremden. „Die Konstruktion des Anderen dient der Bestätigung der eigenen Kultur“, sagt der Ethnologe Roman Loimeier.

Zum Orientbild gehöre auch die Wahrnehmung der Nordafrikaner als „Muslime“. Die Zuspitzung auf die Religion betone den scheinbar starken Unterschied zu einer jüdisch-christlichen, „abendländischen“ Kultur. Auch die Armut gehört in dieses Klischeebild des Orients.

Für Nordafrika ist die Abschottung Europas laut Loimeier sehr schmerzlich. Sie bewirke eine künstliche Grenze im Mittelmeer. Länder wie Tunesien, Algerien und Ägypten fühlten eine kulturelle Nähe zu Europa.

Selbst der französische Kolonialismus, insgesamt „keine attraktive Erfahrung“, habe ein Gefühl der Zusammengehörigkeit hinterlassen. „Die Nordafrikaner verstehen nicht, warum die Europäer sie mit einer solchen Zurückweisung behandeln.“