Chile-Besuch Gauck und die Colonia Dignidad: Nur die Wahrheit hilft

Auseinandersetzen mit den Verbrechen der Vergangenheit - dieses Thema begleitet Joachim Gauck seit Jahrzehnten. Aber in Chile geht es nicht nur um die Gräuel einer Militärdiktatur. Es gibt auch einen deutschen Anteil am Horror, und der macht die Sache kompliziert.

Joachim Gauck am Mittwoch in Santiago de Chile im Museum der Erinnerung und der Menschenrechte. Das deutsche Staatsoberhaupt hält sich zu einem siebentägigen Besuch in Chile und in Uruguay auf.

Joachim Gauck am Mittwoch in Santiago de Chile im Museum der Erinnerung und der Menschenrechte. Das deutsche Staatsoberhaupt hält sich zu einem siebentägigen Besuch in Chile und in Uruguay auf.

Foto: Wolfgang Kumm

Santiago de Chile. Es ist ein recht unscheinbares Denkmal am Rande des Palacio de la Moneda in Santiago de Chile, aber unübersehbar ist es doch. Salvador Allende, der sozialistische Präsident Chiles, dessen Sturz durch das Militär am 11. September 1973 die Diktatur des Generals Augusto Pinochet einleitete. Es sollte 17 Jahre dauern, bis die Schreckensherrschaft vorbei war. Ihre Schatten fallen noch heute auf das Land.

Joachim Gauck, der Erinnerungsexperte, kennt das. „Nur wenn die Wahrheit ans Licht kommt, können Wunden heilen“, sagt er später. 350 Kilometer südlich von Santiago liegt der Ort deutsch-chilenischen Grauens, der heute „Villa Baviera“ heißt. Ihn besucht Gauck nicht. Hier ist noch viel Wahrheit unentdeckt, buchstäblich begraben. Die Geschichte der deutschen Terrorsekte „Colonia Dignidad“ lässt den Bundespräsidenten bei seinem Besuch nicht los.

Auf tragische Weise ist der Schrecken der Colonia verflochten mit dem Schicksal Chiles, denn der pädophile Sektengründer Paul Schäfer und die Schergen Pinochets waren effiziente Partner. Nicht nur bei Mord und Folter, sondern auch beim Waffenhandel und bei der Herstellung von Giftgas. Dritter in diesem Bunde, so sehen es zumindest viele: die deutsche Botschaft in Santiago. Es war die Hoch-Zeit des Kalten Krieges, Allende galt nicht nur den USA als Kommunist. Bei der Wahl der Bündnispartner gegen die linke Bedrohung war man nicht zimperlich.

Seit Außenminister Frank-Walter Steinmeier das unerträglich lange Schweigen der deutschen Diplomaten zu den Verbrechen der Sekte thematisierte, ist der Schrecken der Colonia Dignidad aus dem Nebel der Verdrängung aufgetaucht, in Chile wie in Deutschland. Gauck wusste, dass er den Fragen, Forderungen und Vorwürfen der Hinterbliebenen nicht würde ausweichen können. Ob er einen Plan hatte, wie darauf zu reagieren sei, war zunächst nicht erkennbar.

Unmittelbar vor Beginn des Staatsbesuchs hieß es im Präsidialamt, die Colonia Dignidad solle kein zentrales Thema der Reise werden. Gauck selbst äußerte sich nur zurückhaltend. Er schloss sich zwar Steinmeiers Kritik am Schweigen der Diplomaten an. Deutsche Verantwortung für die Verbrechen der Sekte - von Kindesmissbrauch bis zu brutalen Folterungen - wollte er aber nicht einräumen.

Gauck weiß um die Beschränkungen seines Amtes. Dass er sich nicht in die exekutive Politik einmischen könne, gehört zu den Standardsätzen seiner nun zu Ende gehenden Amtszeit. Diesmal musste er diesen Satz anscheinend besonders beherzigen. Deshalb überließ er wichtige Rollen anderen: seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt, seinem Staatssekretär David Gill und dem Regisseur Florian Gallenberger, der gleichsam als Ehrengast Mitglied der deutschen Delegation war.

Gallenberger hat mit seinem Film „Colonia“ über das Grauen der Sekte bislang mäßigen kommerziellen Erfolg erzielt. In Chile wollte niemand den Film mit Daniel Brühl und Emma Watson in den Hauptrollen in die Kinos bringen. Doch dann lud Gaucks Partnerin Daniela Schadt in Santiago zu einer Vorführung mit anschließender Diskussion. Mit dabei Anwälte der Opfer, Angehörige, Hinterbliebene. „Die Realität war noch viel schrecklicher“, sagt einer über den schon ziemlich brutalen Kinofilm. Dass Gauck sich nicht mit den Opfern treffe, sei unerträglich, klagt ein anderer.

Am Tag darauf, Gauck besucht gerade das „Museum der Erinnerung und der Menschenrechte“, spricht Staatssekretär Gill mit drei Hinterbliebenen, etwa eine halbe Stunde. Sie überreichen einen Brief an den Bundespräsidenten. Schon vor dem Besuch wurden Forderungen vorgetragen: Ein Hilfsfonds für die Opfer, eine Erinnerungsstätte dort, wo heute Touristen in der „Villa Baviera“ bayrische Lebensart genießen wollen, und technische Unterstützung bei der Identifizierung der auf dem Gelände vergrabenen Leichen.

Gauck macht klar, dass er eine juristische Mitverantwortung Deutschlands für abwegig hält. Schließlich gehe es nicht um Kriegsverbrechen oder Gräueltaten von SS und Wehrmacht in Griechenland, Italien oder Frankreich. Aber die rechtliche Ausgangslage ist das eine, humanitäre Hilfe und Unterstützung bei der Aufklärung der Verbrechen das andere.

„Da tut sich was“, heißt es am Ende des Gauck-Besuchs. Den Vertretern der Opfer ist das längst nicht genug. Sie sind enttäuscht, dass Gauck nicht direkt mit einem der Überlebenden gesprochen hat. Der Rechtsanwalt und ehemalige Bewohner der Colonia Dignidad, Winfried Hempel, sagte am Donnerstag: „Die Bundesrepublik Deutschland ist mitverantwortlich, da sie wusste, was in der Colonia Dignidad vor sich ging.“