Katastrophe in Spanien Die spanische Corona-Tragödie

Madrid · Die Krankenhäuser kollabieren, es fehlt an Betten, Schutzkleidung und Tests. Längst sind wohl über eine Million Menschen infiziert. In Leichenhäusern stapeln sich die Särge, das Militär rückt in Altenheime ein.

Das provisorische Krankenhaus der Messe in Madrid. In Spanien sind binnen 24 Stunden 932 neue Corona-Todesfälle registriert worden. Die Notaufnahmen sind völlig überfüllt, in Barcelona und Madrid gelten längst die Regeln der Kriegsmedizin.

Foto: dpa/Ricardo Rubio

Es sind dramatische Szenen, die sich in Spaniens Hauptstadt abspielen: Menschen liegen in den überfüllten Notaufnahmen der Krankenhäuser auf dem Boden. In den Leichenhäusern stapeln sich Hunderte von Särgen, in denen Todesopfer der Corona-Epidemie ruhen. Soldatentrupps in Schutzanzügen rücken zur Seuchenbekämpfung in Altenheime ein, in denen in den letzten Tagen Hunderte Senioren starben, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatten.

„Eine Katastrophe“, sagt Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez. Und zwar eine, auf die Spanien offenbar nicht ausreichend vorbereitet ist. Noch vor einem Monat schaute die Regierung eher mitleidig auf Italien, wo die Zahl der Corona-Kranken damals bereits in die Tausende ging. Am 8. März, als in Italien die am stärksten betroffene Lombardei-Region abgeriegelt wurde, gab es in Spanien auch schon rund 700 Fälle. Aber der spanische Gesundheitsminister Salvador Salvador Illa versicherte, man habe alle Infizierten und ihre Kontaktpersonen unter Kontrolle.

Spaniens Regierung fühlte sich zu diesem Zeitpunkt so sicher, dass sie sogar noch Großveranstaltungen in Madrid genehmigte: etwa eine Massendemo zum Weltfrauentag am 8. März. Oder einen Riesenaufmarsch der rechtspopulistischen Partei VOX am selben Tag. Auch das Spitzenligaspiel Atlético Madrid gegen Sevilla fand am fraglichen Wochenende in der Hauptstadt vor vollen Rängen statt. Wenig später explodierten die Infektionszahlen. Über Nacht wurde die Hauptstadt zum Corona-Brennpunkt des Landes. Von dort verbreitete sich das Virus binnen weniger Tage im ganzen Land.

Inzwischen scheint die Lage völlig außer Kontrolle. In der Region Madrid, in der rund sieben Millionen Menschen leben, sterben jeden Tag wenigstens 300 Menschen am Virus Sars-CoV-2 – zwei Drittel der Toten sind älter als 80. Bis zu diesem Freitag wurden in Madrid insgesamt 4500 Corona-Todesopfer und 34 200 Infizierte gezählt.

Die statistische Sterberate in der spanischen Hauptstadt liegt mit weit über zehn Prozent noch sehr viel höher als in anderen internationalen Corona-Krisenregionen wie etwa in der Lombardei oder der chinesischen Provinz Hubei. Da die Bestatter mit dem Abtransport der Verstorbenen nicht mehr nachkommen, musste das Militär inzwischen den Leichentransport in Madrid übernehmen.

Spanien ist nun mit insgesamt 118 000 bestätigten Infizierten und 11 000 Toten auf dem Weg, Italien als Europas Corona-Epizentrum abzulösen. Am Freitag lagen beide Länder mit ihren amtlichen Erkrankungszahlen etwa auf gleicher Höhe. Doch die Ansteckungskurve in Spanien geht sehr viel steiler nach oben als in Italien. Deswegen wird damit gerechnet, dass die Spanier in Kürze den traurigen Spitzenplatz in der europäischen Epidemie-Statistik einnehmen werden.

Doch die offiziellen Angaben in Spanien sind vermutlich nur die Spitze des Eisberges: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die wirkliche Zahl der infizierten Personen zehn Mal höher ist, als die amtlichen Angaben“, sagt der Epidemie-Forscher Daniel López-Acuña. Gibt es also statt der 118 000 bestätigten Fälle schon mehr als eine Million Corona-Kranke in Spanien?

Vieles spricht dafür: Etwa der große Mangel an Testmöglichkeiten in Spanien. Was dazu führt, dass nur bei jenen schwereren Infektionen, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen, getestet wird. Patienten, die lediglich leichte Covid-19-Symptome haben, was erfahrungsgemäß bei den meisten Erkrankungen der Fall ist, werden weder getestet noch mitgezählt.

Medizinisches Personal kann nicht getestet werden

Es ist erschreckend: Die Laborkapazitäten sind so gering, dass nicht einmal bei allen Risikopersonen ein Test gemacht werden kann. Darunter leiden vor allem Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die in vorderster Front in Hospitälern und Altenheimen gegen das Virus kämpfen. Und die, wenn sie selbst nicht wissen, ob sie Virusträger sind, die Krankheitserreger weiter verbreiten.

Auch mangelt es dem medizinischen Personal an Gesichtsmasken und virusresistenten Kitteln. Ein Skandal, sagt Jaume Padrós, Präsident der Ärztekammer in Barcelona. Für die Mediziner sei dies „die Hölle.“ Die Krankenschwestern fühlen sich ebenfalls vom Staat im Stich gelassen: „Sie müssen sich Kittel aus Mülltüten und Schutzmasken aus Plastik-Schnellheftern basteln“, berichtet Florentino Pérez Raya, Chef des nationalen Pflegeverbandes.

Das Fehlen medizinischer Schutzkleidung hat Folgen: Immer mehr Krankenhaus-Mitarbeiter stecken sich an. Rund 15 Prozent aller Infizierten in Spanien – deutlich mehr als in Italien oder China – sind Ärzte und Pflege-Mitarbeiter. Spaniens Krankenhäuser werden so zu einem Sicherheitsrisiko. Und sie tragen paradoxerweise dazu bei, dass sich die Epidemie in Spanien weiter ausbreitet.

In vielen Krankenhäusern spielen sich zudem Tragödien ab, weil es nicht genügend Intensivbetten für die vielen Menschen gibt, die ärztliche Hilfe brauchen. Längst werden in den Hospitälern in Madrid und in Barcelona die Regeln der Kriegsmedizin angewendet: „Wenn 20 Patienten in kritischem Stadium eingeliefert werden, du aber nur zehn Behandlungsplätze mit Beatmungsmaschinen hast, dann musst du dich entscheiden“, berichtet ein Intensivmediziner. Und die Regeln besagen, dass jene mit den besseren Überlebenschancen Vorrang haben. „Das ist sehr, sehr hart.“

Die Verlierer bei diesen medizinischen Auswahlkriterien sind meist die alten und gebrechlichen Kranken in den Seniorenheimen, in denen das Coronavirus besonders schlimm wütet. Oftmals komme nicht einmal mehr der Krankenwagen, wenn in einem Altenheim der Notruf gewählt wird, weil einer der hochbetagten Bewohner um sein Leben ringt, berichten spanische Medien. „Sie lassen die Leute einfach sterben“, empört sich der Sohn einer 88-Jährigen, die in Barcelona an einer schweren Lungenentzündung litt und vergeblich auf Hilfe wartete.