Merkel lässt EM-Boykott offen

Berlin (dpa) - Im Streit um die Menschenrechte in der Ukraine setzt Berlin zunächst auf medizinische Hilfe für die inhaftierte Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko.

Die Bundesregierung hofft, dass Boykott-Drohungen gegen die teils in dem Land ausgetragene Fußball-Europameisterschaft Kiew beeindrucken.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält sich eine Entscheidung darüber weiter offen, ob sie zu einem Spiel der deutschen Mannschaft reisen wird. Über Reisepläne werde Merkel „kurzfristig entscheiden“, sagte ihr Sprecher Steffen Seibert am Sonntag in Berlin. Gleichzeitig dementierte Seibert einen Bericht des Magazins „Der Spiegel“, dem zufolge sich Merkel für einen gemeinsamen Boykott aller EU-Staats- und Regierungschefs einsetzt, falls die schwer kranke Timoschenko nicht freigelassen wird.

Die Bundesregierung hatte eine medizinische Behandlung in Deutschland angeboten. Angesichts der Weigerung der Ukraine willigte die inhaftierte Ex-Regierungschefin, die an einem Bandscheibenvorfall leidet und zudem im Hungerstreik ist, am Freitag ein, sich in ihrem Land im Beisein eines deutschen Arztes behandeln zu lassen.

Die Regierung in Kiew sieht sich im Fall Timoschenko zu Unrecht an den Pranger gestellt. Man dürfe nicht alles glauben, was die inhaftierte Oppositionsführerin von sich gebe, erklärte Regierungschef Nikolai Asarow auf seiner Facebook-Seite. Er versicherte: „Schläge oder Gewalt gegen Timoschenko hat es nicht gegeben.“

Die Tochter der Politikerin, Jewgenija Timoschenko, hat einem Zeitungsbericht zufolge um Treffen mit Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck gebeten. Timoschenko komme an diesem Montag nach Berlin, um an einer Tagung der Arbeitsgruppe Menschenrechte der Unions-Bundestagsfraktion teilzunehmen, berichtet die „Bild am Sonntag“. Seibert sagte dem Blatt, es gebe keine Pläne für ein Treffen mit Merkel; er schloss es aber auch nicht aus.

Der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Philipp Lahm, forderte die Europäische Fußball-Union UEFA und deren Präsidenten Michel Platini auf, sich deutlich zur Frage der Menschenrechte in der Ukraine zu äußern. „Ich glaube, dass er Position beziehen sollte. Und ich bin gespannt, was er zu sagen hat“, sagte der Abwehrspieler dem „Spiegel“.

Ob Lahm im Falle einer Finalteilnahme bei der Siegerehrung dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch die Hand reichen würde, ließ er sich offen: „Das müsste ich mir dann ernsthaft überlegen. Soviel ich weiß, machen die Siegerehrung in Kiew aber nur UEFA-Leute.“ Der polnische Oppositionspolitiker Jaroslaw Kaczynski forderte indes, das EM-Endspiel von Kiew nach Warschau zu verlegen.

Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier kritisierte die Bundesregierung, weil sie die Ukraine nicht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt. „Dieser Weg wird wahrscheinlich deshalb nicht beschritten, weil er nicht als medienwirksam genug angesehen wird“, sagte Papier der „Welt am Sonntag“.

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hielt dem entgegen, medizinische Hilfe für Timoschenko und die Situation anderer Gefangener mit gesundheitlichen Problemen sollten Priorität haben. „Alle weiteren Fragen stellen sich danach und sollten sorgfältig abgewogen werden.“ Der für Sport zuständige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) begrüßte die Boykott-Drohungen gegen die Fußball-EM in der „Bild am Sonntag“ ausdrücklich: „Die ukrainische Führung weiß, Europa schaut auf sie, und insofern ist die aktuelle Debatte im Sinne unseres Anliegens durchaus hilfreich.“

Der Box-Weltmeister und ukrainische Oppositionspolitiker Vitali Klitschko forderte die westlichen Politiker auf, Appelle zum Boykott der EM nicht zu befolgen und stattdessen in die Stadien zu kommen. „Ihr Missfallen an der Verletzung der Menschenrechte“ könnten sie dann an Ort und Stelle „direkt gegenüber den ukrainischen Machthabern äußern“, sagte er dem Magazin „Focus“. So werde die Weltöffentlichkeit auf die Missstände im Land aufmerksam.

Timoschenko, erbitterte Gegnerin von Präsident Janukowitsch, war im vergangenen Jahr in einem international umstrittenen Prozess wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Kritiker sprachen von Rachejustiz.