Nach Flüchtlingsdrama: Italien trauert und fordert Umdenken

Rom/Lampedusa (dpa) - Nach der Flüchtlingstragödie vor der italienischen Küste hat Rom einen Kurswechsel in der Einwanderungspolitik gefordert.

„Wir werden laut unsere Stimme in Europa erheben, um die Regeln zu ändern, die die ganze Last der illegalen Einwanderung auf die Länder des ersten Eintritts abwälzen“, sagte Innenminister und Vize-Regierungschef Angelino Alfano am Freitag dem TV-Sender Canale 5. Staatspräsident Giorgio Napolitano forderte eine Überprüfung der Gesetze. Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen, die einen besseren Schutz der Flüchtlinge anmahnen.

Bundespräsident Joachim Gauck appellierte an die EU, mehr Menschlichkeit walten zu lassen. Menschenrechtsorganisationen forderten auch Deutschland auf, sich in der Flüchtlingspolitik stärker zu engagieren. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Robert Zollitsch, verlangte ebenfalls Konsequenzen.

Am Unglücksort gingen die Bergungsarbeiten weiter. 111 Leichen waren bis zum Morgen aus dem Mittelmeer geborgen worden, Hunderte weitere Tote wurden befürchtet. „Das ist noch keine definitive Bilanz, weil Dutzende weitere Körper im Wrack des gesunkenen Bootes sind“, sagte Alfano. Wegen schlechten Wetters wurden die Tauchgänge zu dem Unglücksboot am Freitag vorübergehend gestoppt.

Nur 155 der mindestens 400 Menschen an Bord des Schiffes konnten gerettet werden. Das voll besetzte Boot hatte vor der kleinen Isola dei Conigli bei Lampedusa Feuer gefangen und war gekentert. Flüchtlinge hatten eine Decke angezündet, um Fischerboote auf sich aufmerksam zu machen, nachdem das Schiff einen Defekt gehabt hatte.

Ein Fischer, der 47 Menschen rettete, schilderte dramatische Szenen: „Hunderte nach oben gestreckte Arme, Menschen, die versuchten, sich mit Plastikflaschen oder Fischkästen über Wasser zu halten, Hilfeschreie“, sagte er der Nachrichtenagentur Ansa.

Einige Überlebende erhoben Vorwürfe gegen italienische Fischer, die ihnen nicht geholfen hätten. Lampedusas Bürgermeisterin Guisi Nicolini kritisierte die italienischen Gesetze: „Die Fischer sind weitergefahren, weil unser Land schon Prozesse wegen der Förderung illegaler Einwanderung gegen Fischer und Reeder geführt hat, nachdem sie Menschenleben gerettet haben.“

Für Freitag hatte Italien einen Tag der Staatstrauer ausgerufen, vielerorts sollte es Schweigeminuten geben. „Heute ist ein Tag des Weinens“, sagte Papst Franziskus. „Wir alle empfinden Wut, Empörung, das Gefühl von Machtlosigkeit“, sagte Alfano. Solche Dramen könnten sich jederzeit wiederholen, betonte er. In diesem Jahr kamen nach seinen Angaben bereits 30 000 Flüchtlinge nach Italien.

Staatspräsident Napolitano hatte eine Änderung der Gesetze gefordert. Eine schnelle Überprüfung von Normen, die eine Aufnahmepolitik verhinderten, sei nun notwendig, sagte er. „Es ist auch eine Frage von Mitteln, eine Frage des Eingreifens, eine Frage von Verantwortung und eine Diskussion, die absolut nicht nur italienisch sein kann“, sagte er.

Viele italienische Politiker forderten mehr Unterstützung aus der EU. „Dieses Meer bildet die Grenze zwischen Afrika und Europa und nicht zwischen Afrika und Sizilien und deshalb muss sie mit Schiffen und Flugzeugen effektiver gesichert werden, als das momentan der Fall ist. So sinkt auch das Risiko von Toten“, sagte Innenminister Alfano. „Das ist ein europäisches Drama.“

Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, seien wesentliche Grundlagen der Rechts- und Werteordnung, sagte Bundespräsident Gauck in Berlin. „Zufluchtssuchende sind Menschen - und die gestrige Tragödie zeigt das -, besonders verletzliche Menschen. Sie bedürfen des Schutzes. Wegzuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, missachtet unsere europäischen Werte“, erklärte Gauck.

Bischof Zollitsch forderte die EU auf, sich stärker um die Sicherheit der Flüchtlinge zu kümmern. „Wer von ihnen politisches Asyl erhalten kann, ist eine Frage, die im Einzelfall geklärt werden muss; aber die Menschlichkeit gebietet, alles Erforderliche zu tun, um Todesfälle auf dem Meer zu verhindern und ankommende Flüchtlinge mit Würde zu behandeln.“

Amnesty International forderte von Deutschland ein stärkeres Engagement. Nach Jahren der Abschottungspolitik müsse sich die Bundesregierung nun entschieden mehr für Solidarität in der EU-Flüchtlingspolitik einsetzen, sagte der Direktor des Europabüros von Amnesty International, Nicolas Beger, der dpa. „Die Bundesregierung darf nicht zusehen, wie weiter Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen sterben und Asylsuchenden ein faires Verfahren verweigert wird.“

Italien fordert Hilfe von Europa - doch aus Sicht der EU-Kommission ist jetzt Rom am Zug. „Kann man mehr tun? Ja, aber das ist eine Sache der Mitgliedsstaaten“, sagte der Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström in Brüssel. Die Kommission handle nur auf Bitte aus betroffenen Ländern. Die EU helfe bereits, beispielsweise beim Grenzschutz im Mittelmeer.