Rom und Paris wollen Schengen-Abkommen aufweichen
Rom/Brüssel (dpa) - Italien und Frankreich fordern wegen der jüngsten Flüchtlingswelle aus Tunesien eine Reform des Schengener Abkommens - und haben sich damit den Zorn der EU-Kommission zugezogen.
In Extremfällen wollen die beiden Länder wieder die Grenzen innerhalb der EU kontrollieren und die Reisefreiheit vorübergehend beschränken. „Wir wollen, dass der Vertrag lebt, aber damit er lebt, muss er reformiert werden“, sagte Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy heute in Rom nach einem Treffen mit dem italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi.
Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ist dafür, zumindest in Extremfällen die Grenzen innerhalb der EU wieder zu kontrollieren. Als letzte Möglichkeit müssten die Mitgliedstaaten anlass- und lagebezogen Grenzkontrollen einführen dürfen, sagte ein Sprecher von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) in Berlin. Die bisherigen Ausnahmeregelungen müssten vereinfacht werden. Die Reisefreiheit dürfe aber nicht gefährdet werden, ließ Friedrich in Abgrenzung zu den Positionen Frankreichs und Italiens mitteilen.
Frankreich und Italien haben eine zeitweise Aufhebung des Schengen-Abkommens ins Gespräch gebracht - doch damit beißen sie in Brüssel auf Granit. Die EU-Kommission ging auf Konfrontationskurs zu Frankreich und Italien. Ein vorübergehendes Ruhenlassen der Schengener Vorschriften sei vollkommen ausgeschlossen. „Das ist keine Option“, sagte ein Sprecher der EU-Behörde in Brüssel. „Die Schengen-Regeln sind Teil der europäischen Verträge und diese kann man nicht ruhen lassen - sonst muss man die EU verlassen.“
Das Schengen-Abkommen von 1985 hat eine nie gekannte Reisefreiheit innerhalb Europas geschaffen. Dem Gebiet ohne Grenzkontrollen gehören heute 25 Staaten an. An den Grenzen zwischen den Schengenstaaten wurden Reisende nur noch in Stichproben oder bei besonderen Ereignissen - etwa vor großen Sportveranstaltungen - überprüft.
Nach dem Text des Abkommens sind Kontrollen nur in Ausnahmefällen erlaubt, zum Beispiel wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. Darüber entscheidet der Mitgliedsstaat, allerdings muss die EU-Kommission zustimmen. Der Kommissionssprecher ließ bereits Zweifel erkennen: „Wir haben nicht den Eindruck, dass Flüchtlinge eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sind.“ Man dürfe nicht den Eindruck erwecken, dass wegen der Flüchtlinge „die EU nun zusammenbricht und an den Grenzen alle zwei Meter ein Polizist stehen muss.“
Mit dem Gipfel wollten Italien und Frankreich ihren wochenlangen Streit über den Umgang mit 23 000 tunesischen Migranten beilegen. Seit Anfang April stellt Italien - zur Verärgerung von Paris - den Wirtschaftsmigranten Sondervisa aus, mit denen sie nach Frankreich weiterreisen können. Frankreich hatte aber in den vergangenen Tagen zusätzliche Auflagen für die Einreise wie zum Beispiel ausreichendes Bargeld gemacht.
Beide Länder schickten einen Brief, der dpa vorliegt, an EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und den EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy. Darin sprechen sie sich für gesetzliche Änderungen aus wie „die Möglichkeit, vorübergehend Kontrollen an den Binnengrenzen bei außergewöhnlichen Schwierigkeiten wieder einzuführen“. Die Voraussetzungen müsse man noch definieren. Zudem verlangen sie eine bessere Kooperation zwischen Brüssel und den Ländern, die von Flüchtlingswellen betroffen sind. Der Kommissionssprecher kündigte an, das Schreiben zu prüfen.
Einig sind sich die EU sowie Frankreich und Italien darüber, die europäische Grenzschutzagentur Frontex auszubauen und eine „neue Partnerschaft“ mit nordafrikanischen Ländern der Mittelmeerregion rasch zu etablieren. Wegen des massiven Flüchtlingsstroms aus dem Süden sei „eine neue Solidarität unter den Mitgliedsländern“ der Union erforderlich, sagten Berlusconi und Sarkozy. Die EU-Kommission will am 4. Mai einen Bericht vorlegen, der beide Ziele enthält. Zudem dringt Brüssel darauf, Wirtschaftsmigranten in ihr Herkunftsland zurückzuführen und die Asylpolitik zu vereinheitlichen. Das Flüchtlingsthema wird auch beim EU-Gipfel im Juni auf der Agenda stehen.