War Obama in NSA-Abhörattacken eingeweiht?
Berlin/Washington (dpa) - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird nach übereinstimmenden Medienberichten seit mehr als einem Jahrzehnt vom amerikanischen Geheimdienst NSA ausspioniert.
Ihr Handy stehe seit 2002 auf einer NSA-Liste mit Aufklärungszielen, berichtet der „Spiegel“ unter Berufung auf einen Auszug aus einer geheimen NSA-Datei. Der Ausspähauftrag galt demnach wohl auch noch wenige Wochen vor dem Berlin-Besuch von US-Präsident Barack Obama im Juni dieses Jahres. Nach Recherchen der „Bild am Sonntag“ weiß Obama seit 2010 von dem Lauschangriff auf die Kanzlerin.
Auch nach Informationen der „New York Times“ begann die Überwachung vor rund zehn Jahren, also in zeitlicher Nähe zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Gestartet worden sei das Spähprogramm unter US-Präsident George W. Bush - nach dem Nein der Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) zu einer Beteiligung am Irak-Krieg im Jahr 2002, schreibt die „BamS“. Dies habe die Frage aufgeworfen, ob Schröder noch vertrauenswürdig sei. Merkel war damals CDU-Vorsitzende, Kanzlerin wurde sie 2005.
NSA-Chef Keith Alexander habe Obama 2010 persönlich über die Geheimoperation informiert, berichtete die „BamS“. „Obama hat die Aktion damals nicht gestoppt, sondern weiter laufen lassen“, zitierte die Zeitung einen hochrangigen NSA-Mitarbeiter.
NSA-Sprecherin Vanee Vines dementierte den „BamS“-Bericht. Alexander habe weder 2010 mit Obama über die angebliche Geheimdienst-Operation gesprochen, „noch hat er jemals angebliche Operationen, die Bundeskanzlerin Merkel betreffen, erörtert“, sagte sie am Sonntag. „Berichte, die anderes behaupten, sind nicht wahr.“ Das Weiße Haus lehnte eine Stellungnahme zu dem „BamS“-Bericht ab.
Medienberichten zufolge hat Obama versichert, dass ihm die Spionage-Aktion nicht bekannt gewesen sei. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ schrieb, der US-Präsident habe der Kanzlerin nach Bekanntwerden der Abhörvorwürfe am vergangenen Mittwoch telefonisch versichert, davon nichts gewusst zu haben. Andernfalls hätte er eine mögliche Abhöraktion sofort gestoppt, zitierte der „Spiegel“ Obama aus dem Gespräch. Indirekt räumte der Präsident damit allerdings ein, dass die NSA Merkel sehr wohl belauscht haben könnte.
Von der Bundesregierung gab es am Wochenende zu dem Telefonat keine Stellungnahme. „Wir berichten nicht über vertrauliche Gespräche“, sagte ein Sprecher am Samstag der dpa. In dem Gespräch hatte die Kanzlerin Obama „um sofortige und umfassende Aufklärung“ gebeten und betont, dass eine solche Spähattacke „einen gravierenden Vertrauensbruch“ darstellen würde.
Das Weiße Haus hat dazu bisher erklärt: „Der Präsident versicherte der Kanzlerin, dass die Vereinigten Staaten die Kommunikation von Kanzlerin Merkel nicht überwachen und nicht überwachen werden.“ Offen blieb damit, ob Merkels Telefon in der Vergangenheit abgehört wurde. In den nächsten Tagen will die Bundesregierung im Bemühen um mehr Aufklärung eine hochrangige Delegation nach Washington schicken.
Laut „BamS“ wollte Obama sehr genau über Merkel informiert werden. Die NSA habe daraufhin ihre Aktivitäten ausgeweitet und nicht nur das Partei-Handy der CDU-Vorsitzenden im Visier gehabt. Auch Merkels vermeintlich abhörsicheres Handy sei geknackt worden. Spezialisten des US-Geheimdienstes fingen demnach SMS-Nachrichten und Telefongespräche ab. Lediglich den besonders gesicherten Festnetzanschluss im Kanzleramt habe die NSA nicht abgehört.
Die Erkenntnisse seien direkt ans Weiße Haus gegangen. Als Horchposten diente - das berichten Medien seit Freitag - wohl die Berliner US-Botschaft. Laut „Spiegel“ unterhalten die Abhörprofis der US-Spezialeinheit „Special Collection Service“ (SCS) nicht nur in Berlin, sondern auch in Frankfurt/Main einen Stützpunkt.
Deutsche Sicherheitsbehörden wiesen die Kanzlerin und andere Regierungsvertreter nach Informationen der „Welt am Sonntag“ mehrfach darauf hin, dass vertrauliche Kommunikation ausschließlich über Handys mit verschlüsselter Technologie erfolgen sollte. Dass die Kanzlerin trotzdem überwiegend mit einem ungesicherten Handy telefonierte, sei von den Sicherheitsbehörden geduldet worden.
In Deutschland wird der Ruf nach Konsequenzen aus der Affäre lauter. Nach Linkspartei und Grünen fordert nun auch die SPD einen Bundestags-Untersuchungsausschuss. „Nur Aufklärung kann das schwer gestörte Vertrauen in den Schutz der Privatsphäre wiederherstellen“, sagte Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann (SPD) der „BamS“. Ein Untersuchungsausschuss sei „umso unausweichlicher, je mehr die Bundesregierung sich gegen eine seriöse Aufklärung sperrt“, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt.
Linksfraktionschef Gregor Gysi forderte in der „Rheinischen Post“, den „Whistleblower“ Edward Snowden, der mit seinen Informationen die NSA-Affäre ins Rollen gebracht hatte, als Zeugen zu hören. Generalbundesanwalt Harald Range sieht dafür derzeit allerdings keine Möglichkeit. „Ich kann einfach nicht nach Moskau fahren und mich auf den Flughafen setzen und warten, bis Herr Snowden vorbeikommt“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa.
Der amtierende Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sagte der Zeitung: „Abhören ist eine Straftat, und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“ Die amtierende Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) dringt auf eine rasche Vereinbarung mit den USA über die Befugnisse der Geheimdienste, wie sie dem Deutschlandfunk sagte.
Die Grünen wollen Merkel im Parlamentarischen Kontrollgremium befragen. „Es zeigt sich, wie vorschnell die Bundesregierung die Ausspähaffäre im Sommer für beendet erklärt hat - und wie die Dinge plötzlich anders liegen, wenn neben den Bürgerinnen und Bürgern jetzt auch die Kanzlerin selbst betroffen ist“, sagte die neue Grünen-Vorsitzende Simone Peter dem „Tagesspiegel am Sonntag“.
Am Samstag demonstrierten mehrere Hundert Menschen in Washington gegen die Spionageaktivitäten der NSA.