Gastbeitrag Das Ziel der Hamas: Die Zerstörung Israels
Journalist Alan Posener erklärt, warum Israel und Palästina dennoch nur ein Nebenkriegsschauplatz ist. Es geht um den Konflikt zwischen schiitischer Theokratie und sunnitischen Regierungen.
Gaza/Berlin. Vor einem Jahr wurde Jahia Sinwar zum neuen Chef der Hamas in Gaza bestimmt. Ein wegen der Entführung und Ermordung zweier israelischer Soldaten verurteilter und diverser Morde an „Kollaborateuren und Verrätern“ verdächtigte Hardliner, der im Zug eines Gefangenenaustauschs freikam. Jedem Beobachter war klar: Bald würde Sinwar die Konfrontation mit Israel suchen. Am ersten Freitag des Pessach-Wochenendes war es so weit. Die Hamas hatte zu einem „Marsch der Rückkehr“ aufgefordert. Etwa 30 000 Palästinenser näherten sich der Grenze zu Israel, wo die Hamas-Regierung Zelte, Verpflegung und kulturelle Veranstaltungen organisiert hatte. Dann explodierte die Gewalt.
Während Frauen und Kinder Kampflosungen riefen, näherten sich junge Männer dem Grenzzaun und zündeten Autoreifen an. Geschützt durch den Rauch warfen sie Molotowcocktails und Steine auf israelische Patrouillen und versuchten, den Zaun zu zerstören. Es wurde auch geschossen. Die israelische Armee (IDF) reagierte mit gezielten Schüssen. Am Ende des ersten Tages waren 17 arabische Männer tot. Die Zahl ist inzwischen auf 19 angewachsen. Alle bis auf drei waren nach palästinensischen Angaben Aktivisten der Hamas, anderer islamistischer Organisationen oder der Fatah.
Einstweilen scheint der harte — manche sagen: zu harte — Einsatz der IDF Wirkung zu zeigen. Die Hamas rief zum Rückzug auf. Doch war der „Marsch“ nur als Auftakt einer sechswöchigen Kampagne gedacht, die unter dem Motto steht: „Keinen Zentimeter von Palästina aufgeben!“ Mit „Palästina“ ist das Gebiet des gleichnamigen britischen Mandats gemeint, das nach dem Beschluss der Vereinten Nationen von 1947 geteilt werden sollte in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Israel akzeptierte die Zweistaatenlösung. Die arabischen Führer lehnten sie ab und starteten 1948 einen Vernichtungskrieg gegen den jüdischen Staat. Die Folgen kennt man.
Damals flohen etwa eine Dreiviertelmillion Araber aus den Israel zugesprochenen Gebieten, oder wurden vertrieben. Von den damaligen Flüchtlingen leben noch einige Zehntausend, doch die Zahl ihrer Abkömmlinge geht in die Millionen. Die Forderung nach einem „Recht auf Rückkehr“ für diese Menschen ist so unrealistisch wie es die Forderung nach Rückgabe der deutschen Ostgebiete nach 1945 war und gar heute wäre. Sie wäre aber auch ebenso unmoralisch. Die „Rückkehr“ würde aus dem mehrheitlich jüdischen Staat Israel einen arabischen Staat machen, also den UN-Teilungsplan rückgängig machen.
„Umvolkung“, von manchen Populisten hierzulande als Schreckgespenst an die Wand gemalt — genau das will die Hamas. Aber es reicht der Hamas nicht, Zehntausende zu mobilisieren, um für unerfüllbare Forderungen zu demonstrieren. Sie benutzt diese Demonstranten als menschliche Schutzschilde, hinter denen ihre Kämpfer und die Kämpfer anderer islamistischer Gruppen Angriffe auf Israels Grenze starten. „Märtyrer“ sind erwünscht.
Bevor man sich die — legitime — Frage stellt, ob Israel in die Falle der Hamas gelaufen ist, sollte man sich fragen, warum die Hamas gerade jetzt die Konfrontation sucht. Gewiss, die 70. Wiederkehr der Niederlage im Vernichtungskrieg gegen den jüdischen Staat, von den Palästinensern als „Naqba“ — Katastrophe — bezeichnet, bietet einen Anlass. Doch wird in den von der Fatah kontrollierten Gebieten der Westbank allenfalls demonstriert. Selbstmörderische Massenanstürme gegen israelische Grenzanlagen sind von der mit der Hamas rivalisierenden und zugleich verbündeten Fatah unter Führung von Mahmud Abbas nicht geplant.
Die Rivalität zwischen Fatah und Hamas ist aber nicht nur eine zwischen „gemäßigten“ und „radikalen“ Organisationen. Sie spiegelt auch den Konflikt wider, der für die blutigsten Kriege der Gegenwart verantwortlich ist: den zwischen der schiitischen Theokratie im Iran und den sunnitischen Regierungen der arabischen Welt. Syrien und der Jemen sind die Hauptkampffelder, Israel und Palästina Nebenkriegsschauplatz.
Die arabischen Staaten wissen: nicht Israel, sondern der iranische Vormachtanspruch in der Region bedroht ihre Existenz. Längst hat der wichtigste sunnitische Staat, Ägypten, einen Friedensvertrag mit Israel, wie auch das sunnitische Königreich Jordanien. Angesichts der iranischen Vorstöße in Syrien und dem Jemen, von wo aus schon Raketen auf Riad geschossen wurden, gibt es bereits eine inoffizielle militärische Kooperation zwischen Saudi-Arabien und Israel. Jüngst hat der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman das Existenzrecht Israels anerkannt. In der ganzen Region fördert der Iran Terrorgruppen. Auch die mit den Moslembrüdern verbündete sunnitische Hamas. Zwar hatten sich die Beziehungen zwischen Teheran und der Hamas seit 2012 abgekühlt. Doch gilt hier wie überall: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Kaum war Jahia Sinwar im Amt, verkündete er: Die Beziehungen zum Iran seien „sehr ausgezeichnet“, Teheran werde fortan der „wichtigste finanzielle und militärische Unterstützer“ der Hamas sein.
Hier ist ein Wort zur wirtschaftlichen Situation in Gaza angebracht. Mehr als die Hälfte der anderthalb Millionen Einwohner dieses fruchtbaren Landstreifens nehmen den „Flüchtlingsstatus“ für sich in Anspruch. Ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern stammten aus Gebieten, die heute zu Israel gehören. Für diese schnell wachsende Schar ist eine eigene Organisation der UN zuständig, die UNRWA. Sie stellt Essen und Kindergeld zur Verfügung. (Je mehr Kinder eine von der UNRWA unterstützte Frau bekommt, desto mehr Geld hat die Familie, weshalb die Geburtenrate in Gaza viel höher ist als etwa bei Arabern in Israel oder in der Westbank.) Sie betreibt Schulen und Sozialeinrichtungen.
Hauptgeldgeber der UNRWA sind — in dieser Reihenfolge — die USA, die EU, Großbritannien, Saudi-Arabien und Deutschland. Wiederholt hat es Skandale um die 23 000 örtlichen Beschäftigten der UNRWA gegeben; viele — darunter leitende Funktionäre sowie Lehrer an den UNRWA-Schulen — sind Mitglieder der Hamas und anderer radikaler Organisationen. Das heißt: deutsche Steuergelder fließen in die Taschen von Menschen, die Israel zerstören wollen, während deutsche Politiker in Jerusalem ihre Freundschaft mit Israel betonen. Wichtiger ist aber: ein Großteil der Bevölkerung des Hamas-Ministaats wird von westlichen Staaten ernährt und versorgt; das erlaubt der Hamas, sich ihrer wichtigsten Aufgabe zu widmen: der Zerstörung Israels und der Dämonisierung des Westens.
Diese Fakten zeigen auch, wie unsinnig die Forderung nach verstärkter materieller oder humanitärer Hilfe für Gaza ist. Je mehr Geld von außen für die Versorgung der Bevölkerung kommt, desto mehr wird eine Kultur der Abhängigkeit geschaffen und die Hamas-Regierung gestärkt, deren Inkompetenz ohne westliche Hilfe längst zum Zusammenbruch ihrer terroristischen Theokratie geführt hätte.
Neben dem Iran ist der Golfstaat Katar Hauptfinanzier der Hamas. Das Budget der Hamas wird nach eigenen Angaben zu etwa gleichen Teilen für Soziales, Verwaltung und Militär ausgegeben: sprich für die Verteilung von Wohltaten, um Loyalität zu erkaufen; für ein Heer von etwa 40 000 Beamten, deren Lebensunterhalt von ihrem Wohlverhalten abhängt; und für den Terror gegen Israel. Überprüfen kann man die Angaben schwer. Es scheint aber realistisch, wenn der israelische Verteidigungsminister behauptet, die Hamas werde allein für die sechswöchigen antiisraelischen Aktionen 15 Millionen Dollar ausgeben.
Aktionen, die nicht zuletzt die „gemäßigten“ arabischen Staaten und die Fatah-Regierung in Ramallah in Verlegenheit bringen sollen. Im Kampf um die regionale Vorherrschaft hat Teheran nicht nur Atomreaktoren und Zentrifugen, Mittel- und Langstreckenraketen, Verbündete in Moskau und Damaskus und örtliche Milizen wie die Hisbollah im Libanon und die Houthi im Jemen aufzubieten. Der Iran spielt bewusst die antizionistische Karte, um die Stimmung der „arabischen Straße“ für sich zu gewinnen. Das, was Ägyptern, Syrern, Irakern und Jordaniern nicht gelang, die heilige Sache der Befreiung Palästinas von jüdischer „Besatzung“ und die Unterwerfung des Landes unter den Einen Wahren Glauben: das, so die Mullahs, werde nur unter der Führung der Islamischen Republik Iran gelingen. Und darum müssen die verhüllten Frauen, ihre Kinder mit Spielzeugpistolen und in Tarnanzügen im Schlepptau, an der Grenze die Fäuste recken, während ihre Söhne als potenzielle Märtyrer ins israelische Feuer geschickt werden.
Reden wir also von der israelischen Reaktion. War sie angemessen? Oder lief die Armee — wie ein Teil der israelischen Opposition behauptet — in die von der Hamas gestellte Falle? Wer ehrlich ist, muss zugeben: das können wir von hier aus nicht beurteilen. Ja, das kann man auch von Tel Aviv oder Jerusalem aus nicht beurteilen. Sicher ist nur: wäre es den Militanten gelungen, den Zaun zu zerstören; wären Tausende Frauen und Kinder auf israelisches Gebiet gestürmt, unter ihnen auch bewaffnete junge Männer; hätte die Armee in dem Chaos versucht, sie zurückzudrängen — dann hätte es mehr Tote und Verletzte gegeben, darunter Frauen und Kinder. Und darüber hätte die Hamas gejubelt.
Nun wissen alle in Gaza, welcher Preis für den Angriff auf die Grenze zu zahlen ist. Das klingt hart, und es ist hart. Es klingt zynisch, aber es ist nicht zynisch. In siebzig Jahren Kampf gegen Israel haben vor allem die einfachen Palästinenser den Preis für die Machtbesessenheit, Kompromissunfähigkeit und rassisch-religiöse Verbohrtheit ihrer korrupten Führer bezahlt. Die Geste des Kronprinzen Mohammed bin Salman könnte den Beginn eines neuen Tauwetters in den arabisch-israelischen Beziehungen sein. Dem Iran und seinen Marionetten in Gaza darf nicht erlaubt sein, diesen Neuanfang zu torpedieren. Das wäre in der Tat zynisch. Es geht nicht um Israel; das Land weiß sich zu wehren. Sondern um die Palästinenser, die Frieden und Gerechtigkeit — und die Befreiung vom Joch der Hamas — verdient hätten.