Der Chronist der syrischen Toten

Akribisch listet Rami Abdulrahman jedes Opfer auf. Der Exil-Syrer will die Wahrheit veröffentlichen — koste es sein Leben.

Coventry. Für Rami Abdulrahman kommt der Tod als Handyklingeln: Jedes Mal, wenn im Syrien-Konflikt ein Mensch stirbt, schrillt bei ihm in England das Telefon. 24 Stunden am Tag ist er als Chronist der Toten im Einsatz. Die Gefallenenlisten stellt er ins Netz — für alle transparent. Auf diese Art will der Exil-Syrer die Propaganda beider Seiten aushebeln. Doch die Wahrheit hat ihren Preis: Längst zahlt der 41-Jährige mit einem Leben zwischen allen Fronten.

Es ist nicht leicht, zu Rami Abdulrahman vorzustoßen. Man muss seine Handy-Nummer kennen, einen Termin finden und sich dann von seinem Misstrauen dirigieren lassen: Den Treffpunkt fürs Interview will der Menschenrechtler erst in letzter Minute bekanntgeben. Schließlich erscheint nicht er selbst, sondern ein Mitarbeiter, der die Besucher abholt und zu ihm führt. Der Syrer lebt im Krieg, und das mitten im beschaulichen Coventry.

„Ich habe nur sehr wenig geschlafen“, sagt er zur Begrüßung, „gestern ist um 16.30 Uhr eine Bombe in Aleppo hochgegangen, bis zwei Uhr früh hat es gedauert, um Zahl und Namen der Opfer zu klären.“ Medien weltweit zitieren die Angaben des Syrischen Observatoriums für Menschenrechte. 2006 hat Abdulrahman die Gruppe ins Leben gerufen. Dass sie Jahre später zu einer Nachrichtenagentur der Toten umfunktioniert werden muss, hätte er damals nicht geglaubt.

Mit 54 Informanten, die Menschenrechtsverletzungen in Syrien beobachten sollten, hat der 41-Jährige begonnen. „Heute sind es 230 Quellen.“ Sie sind dort, wo es knallt oder wo die Hoffnung stirbt: Als Soldat bei den Regierungstruppen, Sanitäter in Krankenhäusern, unter Rebellen und Abtrünnigen. „Ich kenne jeden von ihnen persönlich“, erklärt Abdulrahman, „ansonsten könnte ich der Qualität ihrer Informationen nicht vertrauen.“ Er überprüft Namen und Daten mit Rückrufen in umkämpfte Städte, sichtet Videomaterial von Augenzeugen. Erst dann gibt er die Daten an die Presse weiter.

Er zählt die Gefallenen auf beiden Seiten — nicht als Schiedsrichter des Todes, wohl aber als sein pingeliger Buchhalter. „Ich bin pro-demokratisch und mag das Regime nicht“, sagt er, „aber wenn die Rebellen foltern und töten, finden sich auch diese Zahlen in meiner Liste.“ 18 802 Zivilisten, 7904 Soldaten, 1189 Fahnenflüchtige und fast 4000 Rebellen sind seit Ausbruch des Konflikts nach seinen Angaben gestorben.

Sein Haus steht unter Polizeischutz. „Bestimmt geht mal irgendwann eine Bombe hoch, wenn ich mein Auto starte“, sagt er. Bei der Ausreise aus Ägypten hat der Grenzer zuletzt seine Daten telefonisch weitergegeben. „An wen? Warum? Ich weiß es nicht, aber offenbar werde ich überwacht“, sagt er. Seine unparteiische Chronik der Gräueltaten gefällt eben nicht jedem: Morddrohungen hat er vom Regime wie auch von Rebellen erhalten.