Deutschland fliegt mit Käpt’n Merkel

Die Kanzlerin weiß immer eine Antwort, kontert jeden Angriff und ist für ihre Gegner nicht greifbar. Peter Struck nannte sie einmal eine Pilotin. Beobachtungen beim Politischen Forum Ruhr in Essen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Politischen Forum Ruhr in Essen.

Foto: Guido Bergmann

Essen. Martin Schulz ist nicht zu beneiden. Dem Kanzlerkandidaten der SPD steht irgendwann im September ein Fernsehduell mit Angela Merkel bevor. Das wird vermutlich nicht lustig für den Mann, der den Zug „Soziale Gerechtigkeit“ zusammengestellt hat und nun die Lokomotive nicht unter Dampf bekommt. Was ihn im Fernsehstudio erwarten könnte, erlebten am Dienstagabend annähernd 2800 Leute in der Essener Philharmonie.

Sie waren Gäste des Politischen Forums Ruhr, und Angela Merkel war der Star einer 90-minütigen Bundeskanzlershow. Wer sie verfolgte, weiß nun, warum Demoskopen der CDU-Chefin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin voraussagen. Merkel wird ihre Parteifreunde Konrad Adenauer und Helmut Kohl vermutlich überflügeln.

Ansprachen von Angela Merkel gleichen Regierungserklärungen. Ein Thema reiht sich zumeist sinnvoll und mit gedanklich barrierefreiem Übergang an das andere. Innen- und Außenpolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik verwebt sie dabei regelmäßig zu einem Teppich, der vermeintlich nichts anderes zulässt als wohlige Zustimmung. Den Ohren ihrer Freunde und Fans schmeichelt das, ihren politischen Mitbewerbern hingegen droht wahrscheinlich das Trommelfell zu platzen.

Auch in Essen wehrte Merkel die harmlosen Angriffe von Moderator Jörg Quoos ab. Der heutige Chefredakteur der Funke-Mediengruppe und ehemalige Chef des konservativen Politikmagazins „Focus“ versuchte es gar mit einem wohlfeilen Angriff auf die „Rote Flora“ in Hamburg, von der die Gewalt am Rande des G20-Gipfels ausging. Wer nun aber glaubte, Merkel schösse ein billiges Tor, um sich von der Recht- und Ordnung-Fraktion ihrer Partei und der CSU bejubeln zu lassen, der irrte. Merkel ließ sich nicht zu einem „weg damit“ hinreißen, warb stattdessen für Besonnenheit und die Prüfung der Dinge, ehe entschieden wird.

So macht sie das immer. Hören, ein, zwei Atemzüge, antworten. Und mit jeder Antwort nimmt sie ihren Kritikern den Wind aus den Segeln. Obendrein sind die das oft auch selbst schuld. In der Rentenfrage zum Beispiel. Den Vorwurf, die Union spare das so wichtige Thema im Wahlkampf aus, kontert Merkel mit einem Blick in die Geschichte. „Wir haben 2007 ein Konzept bis 2030 gemacht. Damals gab es mehr Arbeitslose. Heute zahlen fünfeinhalb Millionen Menschen mehr in die Rentenkasse ein als damals. Wir haben doch ein Rentenkonzept. Es ist von Franz Müntefering.“ Sollte die SPD das vergessen haben, Merkel erinnert sie. Müntefering ist Genosse.

So geht das in einer Tour. Angriff, Parade, Angriff, Parade. Jeder Stich gegen Merkel geht ins Leere. Und wenn die Klinge der Haut einmal bedrohlich nahe kommen sollte, dann schaltet diese Bundeskanzlerin auf „kalkulierte Niederlage“ um. So war es, als die SPD ihr den Mindestlohn aufdrängte, so war es, als sie die Wehrpflicht abschaffte, als sie die Atomkraftwerke abschaltete, und bei der Ehe für alle war es nicht anders. Wenn die Parameter sich ändern, ändert auch Angela Merkel sich. Und immer klingt es vernünftig, nie ideologisch.

Dann und wann gibt Merkel auch die Sozialdemokratin. Beim Mindestlohn etwa. Ja, sie sei ein Gegner gewesen. „Aber ich habe meinen Wahlkreis auf Rügen. Und wenn Sie sehen, dass die Menschen, die den Feriengästen das Essen kochen, am Monatsende zum Amt gehen müssen, um aufzustocken, dann kann das nicht sein.“ Selbstverständlich wäre es ihr lieber gewesen, die Tarifparteien hätten das geregelt. „Aber in den alten Bundesländern sind nur noch 50 Prozent der Beschäftigten in einem Tarif, in den neuen Ländern sind es noch weniger.“ Sie habe also handeln müssen. Im Sinne der sozialen Gerechtigkeit — die doch eigentlich das Thema von Martin Schulz ist.

Überhaupt SPD. Angela Merkel fällt es fröhlich leicht, ihren Vorgänger Gerhard Schröder für die Agenda 2010 zu loben, an deren Umsetzung sich freilich auch die CDU beteiligt habe. Es scheint ihr gleichsam ein Anliegen zu sein, Hamburgs SPD-Bürgermeister Olaf Scholz vor Rücktrittsforderungen seitens der Hamburger CDU nach den herben G20-Krawallen in Schutz zu nehmen. Deutschland müsse auch vor Wahlen solche Treffen ausrichten. „Wir können uns da nicht drücken.“

Mit dem mahnenden Blick einer Erziehungsberechtigten geißelt sie den Ausfall ihres Generalsekretärs Peter Tauber, der Ausbildung als Mittel gegen drei Minijobs auf einmal twitterte. Und dem Unternehmer im Publikum, der seine Abneigung gegen ihre Flüchtlingspolitik nicht verhehlt, erklärt Merkel kurzerhand die Welt. „Wenn wir nicht dafür sorgen, dass es diesen Menschen in ihrer Heimat besser geht, dann geht es uns schlecht.“

Alles hängt halt mit allem zusammen. In seinem Buch „Wohlstand für alle“ hat Ludwig Erhard, der Erfinder der sozialen Marktwirtschaft, sinngemäß für Geschäfte zum Wohle aller Beteiligten geworben. Diese Formel nimmt auch Merkel für sich in Anspruch. Damit erklärt sie, dass Deutschlands Verantwortung nicht an den Außengrenzen endet und die Krisen der Welt deshalb auch Aufträge an Deutschland sind.

Und wie sie das erklärt, gehen ihr Begriffe wie „Solidarität“, „Gerechtigkeit“, „Nachhaltigkeit“, „inklusives Wachstum“, „sozialer Ausgleich“ spielerisch über die Lippen. Gleichzeitig kündigt sie an, dass keine Steuern erhöht werden, auch nicht die auf Erbschaften, und eine Vermögenssteuer kommt in Merkels Finanzkonzept ebenfalls nicht vor. Reichtum ist für Merkel die Abwesenheit von wirtschaftlichen Sorgen im Alltag. „Eine Grenze nach oben? Die kann ich mir nicht vorstellen.“ Will heißen: Ich bin auch nur ein ganz normaler Mensch. Mindestens für einen Gast im Publikum ist Angela Merkel mehr. „Frau Dr. Merkel, Sie sind ein Mordsweib“, verstieg der Mann sich. Er meinte es anders, als Friedrich Merz, Roland Koch oder Christian Wulff es vielleicht verstehen.

SPD, Grüne, FDP — Wähler aller Parteien können sich in den Aussagen der vermeintlich konservativen Politikerin wiederfinden. Merkel hat einen Ton gefunden, der sie zu einer Art Bundespräsidialkanzlerin macht. Das mag Zustimmungsquoten von knapp 60 Prozent erklären, es erklärt, warum viele SPD- und Grünen-Wähler die 62-Jährige gegenüber Schulz für die bessere Alternative halten. Dabei gibt sie auf eine wichtige Frage nie eine Antwort. Der 2012 gestorbene frühere SPD-Fraktionschef und Verteidigungsminister Peter Struck hat über Merkel einmal gesagt, sie sei eine großartige Pilotin. Mit ihr in einem Flugzeug fühle er sich sicher und entspannt. „Nur weiß man bei ihr nie, wo man landet.“

Wenn das stimmt, dann scheint für Angela Merkel der Weg das Ziel zu sein. Der Weg führt sie nach Lage der Dinge wieder ins Kanzleramt. Die meisten Deutschen fliegen offenbar gern mit Käpt’n Merkel.