Interview DGB-Chef Hoffmann: "Arbeitgeber verabschieden sich täglich aus der sozialen Verantwortung"

Herr Hoffmann, raten Sie der SPD allen Ernstes zu einer weiteren Koalition mit der Union?

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Hoffmann: Entscheidend ist, was für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland dabei herauskommt. Das Sondierungsergebnis ist im Vergleich mit dem, was bei Jamaika zu erwarten gewesen wäre, deutlich substanzieller. Neuwahlen eröffnen nach allen bisherigen Prognosen keine neuen machtpolitischen Optionen, könnten aber den Vertrauensverlust bei den Bürgerinnen und Bürgern vertiefen. Davon profitierten dann nur die Rechtspopulisten und Rechtsnationalisten. Daran haben wir kein Interesse.

Wir haben aber erlebt, dass die SPD in den vergangenen Jahren in der Zusammenarbeit mit der Union deutlich an Zuspruch verloren hat. Die SPD war in Umfragen zuletzt bei 19 Prozent. Von Volkspartei ist das ein bisschen entfernt. Das gibt schon Anlass zur Sorge, oder?

Hoffmann: Was heißt heute noch Volkspartei? Das Parteiensystem holt in Deutschland die Veränderungen nach, die es in anderen europäischen Ländern schon gegeben hat. Bei der SPD haben wir es mit drei Häutungen zu tun. Die erste gab es Anfang der 1980er Jahre unter Helmut Schmidt mit dem Aufkommen der Grünen. Unter Gerhard Schröder entstand die WASG, daraus ist die Linke geworden. Und letztlich hat seit 2003 unter Angela Merkel eine Sozialdemokratisierung der CDU stattgefunden, unter der die SPD sicher auch gelitten hat, was ihr eigenes Profil und ihre Erkennbarkeit angeht.

Was tun? Wenn Sie Themen benennen sollten, mit denen die SPD stärker werden kann, welche wären das?

Hoffmann: Ich wünsche mir zunächst ein deutlich selbstbewussteres Auftreten. Die SPD hat gerade in der letzten großen Koalition einen guten Job gemacht, mit dem Mindestlohn, mit der Rente mit 63. Aber nicht nur Nahles, auch Gabriel als Wirtschaftsminister, Manuela Schwesig als Familienministerin. Und das, bitte schön, als kleinerer Partner. Die Union als größere Partner hat ja in vielen Fällen auf der Bremse gestanden — zum Beispiel beim Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit. Das steht jetzt aber im Sondierungsergebnis drin — obwohl wieder die SPD der kleinere Partner ist. Ich verstehe nicht, dass man sich da kleinkrämerisch hinstellt und sagt, man hat nicht alles erreicht.

Das wird so aber nicht wahrgenommen . . .

Hoffmann: Deshalb empfehle ich der SPD für die Erneuerung: Geht auch an eure Wurzeln zurück, in den Landkreisen und Städten. Ich komme aus Wuppertal und beobachte aus Berlin einen Andreas Mucke. Er ist ein sehr bürgernaher Oberbürgermeister, der auf die Bürger zugehen und mit Zielkonflikten umgehen kann. Es muss auch eine Polarisierung stattfinden, damit der Bürger erfährt, worum es eigentlich geht.

Was muss aus Sicht des DGB herauskommen, damit wir für vier Jahre eine ordentliche Regierung bekommen?

Hoffmann: Ich finde, die CDU muss liefern. Im Wahlproramm ist sie gegen die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen aufgestanden, das soll sie jetzt mit der SPD umsetzen. Acht Sachgründe stehen im Gesetz, die reichen.

Und?

Hoffmann: Dann ist dringend geboten, dass die Tarifbindung gestärkt wird. Kanzlerin Angela Merkel hat mehrfach in Gesprächen mit dem DGB, aber auch öffentlich — zum Beispiel in Meseberg — betont, wie wichtig ihr die Tarifbindung ist. Jetzt besteht in einer großen Koalition die Chance, dass die CDU ernst macht, die Tarifbindung stärkt und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen erleichtert.

Wovon auch die Gewerkschaften profitieren, denen ohne Tarifbindung die Mitglieder davonlaufen.

Hoffmann: Wir beobachten seit längerem, dass sich Arbeitgeber täglich aus der sozialen Verantwortung verabschieden, weil sie keinen Verband mehr angehören. Oder sie gründen aus, was geht, von Maschinenwartung bis Reinigung, Kantinen, Zulieferungen, gerne in Bereichen, in denen es keine Tarife gibt. Da wäre es ein Leichtes für die Verhandler, dass man Nachwirkungen von Tarifverträgen vereinbart oder alte in Kraft belässt, bis es neue gibt.

Da schwingen die Gegner aber die Globalisierungskeule und drohen mit dem Digitalisierungsgespenst. Was setzen Sie dem entgegen?

Hoffmann: Die deutsche Exportstärke resultiert doch nicht daraus, dass wir in den Industrien wie Maschinenbau, Chemie, Anlagenbau Niedriglöhne hätten. Im Gegenteil, da werden die höchsten Löhne bezahlt, und diese Unternehmen sind trotzdem alle weltweit wettbewerbsfähig. Die Branchen mit den niedrigsten Löhnen und der geringsten Tarifbindung, häufig Dienstleistungen, stehen dagegen überhaupt nicht im internationalen Wettbewerb. Unsere Wettbewerbsfähigkeit basiert auf hoher Qualität mit guter Bezahlung und nicht auf niedrigen Löhnen.

Und welche Antworten hat der DGB auf die Digitalisierung?

Hoffmann: Die Chancen, die in der Digitalisierung liegen, können Menschen nur dann nutzen, wenn sie lernen, mit diesem neuen Potenzial umzugehen. Das heißt, wir müssen in Bildung und Ausbildung investieren, wir müssen sie stärker beteiligen, sie müssen mehr Zeitsouveränität haben.

Letzteres sehen die Metallarbeitgeber deutlich anders . . .

Hoffmann: Ja, da weigern sich Arbeitgeber aus ideologischen Gründen, Menschen mehr Zeitsouveränität zu geben. Sie fordern ständig Flexibilität von ihren Beschäftigten, wollen sie aber den Beschäftigten nicht zugestehen. Aber wer eine hochmotivierte, hoch qualifizierte Belegschaft haben will, Produktivitätsgewinne und Wettbewerbsfähigkeit, der muss auch Beschäftigten die Möglichkeit geben, ihre Arbeitszeit und ihre Lebensphasen zu planen.

Bei vollem Lohnausgleich?

Hoffmann: Hier macht die IG Metall etwas ganz Intelligentes. Auch andere Branchen haben bereits intelligente Arbeitszeitsysteme. Und andere haben das auch schon getan. Die unteren Lohngruppen haben in der Regel nicht ein so hohes Einkommen, dass sie sich auch befristet die Reduktion ihrer Arbeitszeit leisten können. Ihnen soll nun anlassbezogen, bei Kindererziehung oder Pflegetätigkeiten, eine Kompensation gegeben werden. Das ist doch wohl vernünftig, damit Teilzeitarbeit und Zeitsouveränität nicht nur für die gut ver-dienenden Beschäftigten möglich ist. Da verstehe ich die Borniertheit der Arbeitgeber überhaupt nicht.

Sie sind auch SPD-Mitglied. Finden Sie, dass es eine gute Idee ist, die Basis über den Koalitionsvertrag entscheiden zu lassen? Birgt das nicht das Risiko, dass die Entscheidung zu emotional getroffen wird in der Angst, dass vier weitere Jahre mit Merkel die SPD zerstören?

Hoffmann: Das ist der Weg, den Sigmar Gabriel vor vier Jahren eingeschlagen hat.

Damals lag die SPD aber noch bei 25 Prozent. Heute sind es kaum 20 . . .

Hoffmann: Aber es ist wirkliche Demokratie innerhalb der Partei, dass man nicht nur die Funktionäre befragt. Gabriel hat vor vier Jahren gezeigt, dass es geht, auch wenn die Zustimmung diesmal vermutlich nicht so hoch sein wird.