Anschlag von Berlin Die kriminelle Karriere des Anis Amri

Berlin/Tunis. Noch ist Anis Amri auf der Flucht, doch es kommt immer mehr über den mutmaßlichen Attentäter von Berlin ans Licht. Er galt als islamistischer Gefährder, einer von 549 in Deutschland, verhielt sich aber während seiner Observation in Berlin als Kleindealer so unauffällig, dass die Generalstaatsanwaltschaft dort nach eigenen Angaben ihre Beobachtung einstellte.

Foto: dpa-infografik GmbH // Fahndungsfoto



Amri ist nicht einer jener Flüchtlinge, die über die Balkan-Route kamen, sondern einer der Nordafrikaner, die schon jahrelang in Europa leben. Er wurde nach seiner Flucht aus Tunesien im Februar 2011 von der italienischen Polizei registriert.

In einem schmucklosen Zimmer in einer kleinen Stadt in den tunesischen Bergen hat sich die Familie des mutmaßlichen Berlin-Attentäters um einen niedrigen Tisch versammelt. Alle fünf Schwestern sind da, zwei seiner Brüder, die Mutter mit den Berbertätowierungen im Gesicht, der alte Vater, der die linke Hand reicht, weil ihm der rechte Arm fehlt. Auf dem Tisch steht ein Bild von Anis, dem Jüngsten von insgesamt neun Geschwistern. „Ich kann es gar nicht glauben, dass Anis so etwas gemacht haben soll“, sagt die 28-jährige Schwester Najwa. Er habe doch noch am Sonntag angerufen. Einen Tag, bevor er in Berlin einen Lkw in einen Weihnachtsmarkt gesteuert und mindestens zwölf Menschen getötet haben soll.

„Wir können es alle nicht glauben“, sagt die Schwester, die mit Kopftuch und im Trainingsanzug in dem kleinen Zimmer sitzt. „Anis war nie religiös. Er hat getrunken, er hat gefeiert, er hat Popmusik gehört.“ Er sei ein ganz normaler Junge gewesen.

Zusammen mit vier anderen Jungs aus dem Viertel macht Anis Amri sich den Erzählungen seiner Familie zufolge im März 2011 auf den Weg über das Mittelmeer. Der Arabische Frühling ist gerade erst drei Monate alt. „Wir haben alle nicht damit gerechnet, dass sich irgendwas hier ändert“, erzählt die Schwester Najwa. Die Familie habe das Geld für den Schlepper von der Küste Richtung Italien zusammengekratzt, damit er es schafft. Anis ist damals 17 Jahre alt und ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe wegen Diebstahls. Er soll einen Lkw geklaut haben, so die Anklage.

Zehntausende brechen damals an der tunesischen Küste auf. Viele kommen aus ähnlichen Verhältnissen wie Anis, aus kleinen Dörfern wie der 8000-Einwohner Stadt Oueslatia, wo die Straßen staubig sind, die Häuser niedrig und die Zukunft ungewiss. Sie hoffen auf ein besseres Leben in Europa. Für Anis Amri endet die Reise zunächst in einem Flüchtlingslager in Italien, dann folgen mehrere Jahre Haft in Italien, wie die Familie berichtet.

Zwar gilt Tunesien weltweit als einer der größten Exporteure von Kämpfern für den Islamischen Staat (IS) - Amerikanische Denkfabriken schätzen, dass bis zu 7000 Tunesier aufseiten der Terrormiliz in Syrien, im Irak und Libyen kämpfen - aber die große Radikalisierungswelle habe erst in den Jahren nach der Revolution, zwischen 2011 und 2014 stattgefunden. Da war Anis Amri in Italien in Haft.

Medienberichten aus Italien zufolge war Amri auch dort eher kriminell als politisch-religiös inspiriert. Gefängnisstrafen wegen diverser Straftaten sollen demnach auf sein Konto gehen, darunter Raub, Körperverletzung und Brandstiftung.“ Er schuf in der Klasse ein Klima des Schreckens“, schreibt die italienische Tageszeitung „La Stampa“ über die kurze Zeit des Tunesiers an einer Schule auf Sizilien 2011. Als man versuchte, ihn zur Raison zu bringen, habe Amri rebelliert. „Seine Geschichte als guter Migrant endete mit dem Versuch, die Schule anzuzünden“, schrieb das Blatt unter Berufung auf seine Strafakte.

Nach den Vorfällen an der Schule habe ihn die Polizei im Oktober 2011 festgenommen. Es folgen mehrere Jahre Haft in Italien. 2015 kam er aus Italien nach Deutschland.

Als er aus der Haft entlassen wird, die italienischen Behörden ihn aber nicht abschieben können, reist er nach Deutschland weiter. Er habe regelmäßig angerufen oder Nachrichten über Facebook geschrieben, erzählt seine Schwester Najwa. Einmal habe er auch ein Paket geschickt: Ein Handy und Schokolade. „Aber es war schwer für ihn. Er kam nicht gut zurecht, er wollte zurück nach Tunesien, das hat er in jedem Telefonat gesagt.“ „Ich will nur, dass die Wahrheit herauskommt“, sagt Anis Mutter Nur el-Houda. Sie weint die ganze Zeit mit den Schwestern: um den Sohn, weil sie das Schlimmste befürchtet. „Wir beten mit den Opfern, so oder so.“

In Deutschland war Amri schnell in salafistische Kreise gekommen. Inoffiziell bestätigen Sicherheitskreise, dass es das Netzwerk rund um den im November festgenommenen Abu Walaa war. Er soll aber nicht zum festen Kern der Gruppe gehört haben. Abu Walaa gilt als salafistischer Chefideologe und mutmaßlicher Unterstützer der Terrormiliz „Islamischer Staat“. In Dortmund berichteten Anwohner den „Ruhr Nachrichten“, dass Amri dort zeitweise beim Deutsch-Serben Boban S. (36) gewohnt hat, jenem Salafisten, der mit Abu Walaa Anfang November festgenommen worden war.

Als das Netzwerk um den Iraker Abu Walaa Anfang November zerschlagen wurde, war Amri den Behörden zufolge in Berlin. „Anis Amri war nach unserer Kenntnis im August zum letzten Mal in NRW“, sagte ein Sprecher des NRW-Innenministeriums. „Die Sicherheitsbehörden in NRW waren, immer wenn er hier war, sehr eng an ihm dran. Er ist immer im Blick gewesen und unsere Erkenntnisse über ihn haben wir mit den anderen Behörden ausgetauscht.“

Die Behörden hatten den Mann schon länger im Blick: Gegen Amri wurde wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat ermittelt, wie NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Mittwoch mitteilte. Die Ermittlungen führte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft. Laut dieser gab es Informationen, wonach Amri einen Einbruch plane, um Geld für den Kauf automatischer Waffen zu beschaffen — „möglicherweise, um damit später mit noch zu gewinnenden Mittätern einen Anschlag zu begehen“.

In Berlin wurde Amri deshalb von März bis September dieses Jahres überwacht. Die Observierung und Überwachung der Kommunikation habe aber nur Hinweise geliefert, dass Amri als Kleindealer im Görlitzer Park in Kreuzberg tätig sein könnte, erklärte die Generalstaatsanwaltschaft. Für den Verdacht, dass er sich mit einem Einbruch Geld für einen Anschlag beschaffen wollte, habe es keine Anhaltspunkte gegeben — trotz Verlängerung der Überwachung. Deshalb wurde die Observation im September beendet.