#Breitscheidplatz Die Stadt wirkt nach dem Anschlag wie gelähmt
Der Attentäter erwischt mit der Gedächtniskirche ein zentrales Symbol für den Frieden. Die Berliner können es nicht glauben.
Berlin. Die Berliner sind einiges gewöhnt. Gerade erst hat einer eine junge Frau von hinten im U-Bahnhof die Treppe heruntergetreten, einfach so. Darüber hat man sich aufgeregt, immerhin. Und der Mann ist gefasst. Aber dass einer mit dem Lastwagen über den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche rast, zwölf Menschen tötet, einfach so? Viele wollen auch am Tag danach nicht recht glauben, dass der Terror in der deutschen Hauptstadt angekommen ist.
Am Montagabend, kurz nach der Amokfahrt, ist der Breitscheidplatz rund um die Gedächtniskirche eine einzige Lightshow aus dem Blaulicht der Sanitätsfahrzeuge, den Scheinwerfern der Feuerwehr und den Lampen der Reporter, die sich sofort zu Dutzenden einfinden. Aber es ist dabei auffallend ruhig. Wie im Auge des Hurrikans. Kein Geschrei, keine Sirenen. Die letzten Zivilisten, die sich im abgesperrten Bereich befinden, sind Kinogänger des Zoo-Palastes.
Sie werden nach dem Ende der Vorstellung sanft aber bestimmt gebeten, nur bestimmte Ausgänge zu benutzen. Manche reden über den Film, den sie gerade gesehen haben. Sie haben nichts mitbekommen und wundern sich über die Szenerie. Auf dem Weihnachtsmarkt sind alle Buden geschlossen, jede Musik ist verstummt. Kurz vorher, berichtet ein 20jähriger Student, war hier noch reichlich Betrieb.
"Männerrunden, Glühwein und so". Das Übliche auf Weihnachtsmärkten. Der junge Mann ist genau durch die Gasse geschlendert, die es 30 Minuten später getroffen hat. Nun liegt der schwarze polnische Truck wie ein gestrandeter Wal in den winzigen Buden. Auf der letzten, an der er zum Stillstand kommt, steht "Faszination Weihnachten". Dahinter steht blauschimmernd der Neubau der Gedächtniskirche, und über allem thront erhaben die Ruine der Gedächtniskirche.
Es ist ein höchst symbolträchtiges Bild. Fast friedlich. Die Schneise der Verwüstung ist hinter roten Planen verborgen. Davor haben sich Polizisten postiert, Maschinenpistolen im Arm. Was passiert ist, ahnt man nur, wenn man sieht, was der 20-Tonner an Holz, Gerümpel und Dekoration unter sich begraben hat. Und Menschen. Ein Augenzeuge sagt, er habe fünf Körper unter und zwischen den Reifen gesehen.
Die Betreiberin eines Glühweinstandes sagt, der Laster sei mindesten 40 Kilometer schnell gewesen. Bevor sie ihn richtig realisierte, sei er schon vorbei gewesen. Danach habe sie nur noch "Arme, Beine, Blut, Blut, Blut" auf der Gasse gesehen. Abends weiß die Polizei noch nicht sicher, dass es ein Anschlag war. Wer von der Kantstraße kommend die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert, könnte tatsächlich so fahren. Aber dagegen spricht, dass das Licht des Lastwagens ausgeschaltet war, und vor allem, dass der Fahrer geflüchtet ist.
Polizeisprecher Thomas Neuendorf nennt die Sache vorsichtshalber trotzdem noch sehr lange ein "Ereignis". Und er sagt, der Beifahrer im Lastwagen sei "durch die Einwirkungen des Unfalls" gestorben, ein "Verdächtiger" sei im nahen Tiergarten festgenommen worden. Das ist der Stand am Abend.
Dienstagmorgen ist die Sachlage klarer. Zwölf Tote, rund 50 Verletzte. Vorsatz. Der polnische Lastwagen ist entführt worden, und der tote Beifahrer ist der ursprüngliche polnische Fahrer, erschossen mit einer Pistole. Also ein Anschlag. Aber wer ist der Urheber? Der festgenommene Verdächtige ist ein Pakistani, 23 Jahre alt, ein Flüchtling. An ihm entzündet sich sofort eine heftige politische Debatte um Flüchtlinge, um Merkel, um offene Grenzen.
Doch der Verdächtige leugnet. Und die Polizei findet bei ihm zunächst keine Beweise, keine Spuren. Hat sie den Falschen? Läuft der Terrorist noch in Berlin herum, mit Waffe? Die Entwarnung, die der Regierende Bürgermeister Michael Müller noch am Abend bei seinem ersten Besuch am Tatort gegeben hat ("Die Lage vor Ort ist unter Kontrolle"), gilt plötzlich nicht mehr. Überall in der Stadt werden die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verschärft. Kein Weihnachtsmarkt öffnet.
Aber noch immer ist die Gedächtniskirche der vielleicht ruhigste Ort in Berlin. Anselm Lange, Kirchenvorstand, schließt das Kirchenschiff um neun Uhr auf, einige wenige ältere Menschen setzen sich zum Gebet in die Reihen. Zwei Stunden später liegt hier ein Kondolenzbuch aus. Der halbe neue Berliner Senat kommt, um sich als erstes einzutragen. Die Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein sagt beim Rausgehen, sie müsse Heiligabend die Predigt halten. "Das wird nicht einfach".
In der Gegend sind wenig Passanten zu sehen, obwohl nur noch ein kleiner Bereich abgesperrt ist. Manche haben ihre Coffee-To-Go-Becher in der Hand, werfen nur einen kurzen Blick hinüber. An zwei Stellen bilden sich kleine Gedenkinseln, an denen Blumensträuße niedergelegt werden können.
Sie wachsen nur langsam an. Ein Zettel hängt da: "Es gibt keinen Gott". Vielleicht ist es der kalte Nebel, der über der ganzen Stadt liegt, Berlin wirkt stiller als sonst. Die U-Bahnen sind zwar voll wie immer, doch jetzt redet kaum jemand. Und wenn, dann nur sehr leise. Auf den Monitoren an der Decke der Wagen laufen zwischen Werbung und Veranstaltungstipps die aktuellen Nachrichten.
"Polizei vermutet Terroranschlag" ist die Top-Meldung. Nur wenige schauen hin. "Unkraut vergeht nicht", sagt jemand in sein Handy. Vielleicht beruhigt er gerade einen Bekannten. In einer türkischen Bäckerei in der Nähe sagt der Besitzer, es sei heute wenig los.
"Vielleicht haben die Leute Angst". Eine deutsche Stammkundin antwortet: "Drücken wir einfach den Daumen, dass es kein Terror war, sondern bloß irgendein ganz normaler Verrückter". Berlin, wie gesagt, ist einiges gewöhnt. Auch ganz normale Verrückte. Aber dies?