Ein ganzes Land versinkt im Chaos
Nach der Räumung der Lager der Mursi-Anhänger und den folgenden Ausschreitungen ruft die Regierung den Notstand aus.
Kairo. Nach der blutigen Räumung der islamistischen Protestlager in Kairo und landesweiten Ausschreitungen gilt in Ägypten für einen Monat der Notstand. Mindestens 149 Menschen kamen bei den schweren Unruhen gestern ums Leben. Sanitäter und Krankenhausärzte zählten zudem landesweit 1403 Verletzte, wie die Gesundheitsbehörden meldeten. Die Muslimbrüder erklärten, die Zahl der Todesopfer sei bei 2200.
Nachdem die Polizei die Anhänger des vor sechs Wochen gestürzten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi aus den Protestlagern vertrieben hatte, stürmten Sympathisanten der Demonstranten öffentliche Gebäude in mehreren Provinzen. Auf dem Sinai stürmten bewaffnete Männer mehrere öffentliche Gebäude. In Oberägypten griffen Islamisten nach Darstellung christlicher Aktivisten vier Kirchen an. In der Innenstadt von Luxor protestierten rund 300 Demonstranten gegen die Polizeigewalt. In Kairo und einigen anderen Provinzen wurde daraufhin eine Ausgangssperre von 19 Uhr bis 6 Uhr verhängt. Die Ausrufung des Notstandes ermöglicht Razzien und Festnahmen ohne gerichtliche Anordnung.
Die Polizei setzte bei der gewaltsamen Räumung der beiden Protestlager erst Tränengas ein. Ein Großteil der Demonstranten hatte sich in Sicherheit gebracht. Andere Mursi-Anhänger leisteten jedoch Widerstand. Die Islamisten gingen mit Steinen und Flaschen auf Sicherheitskräfte los. Ein dpa-Reporter sah, wie Demonstranten im Viertel Nasr-City auf Polizisten feuerten, die daraufhin das Feuer erwiderten und mit gepanzerten Fahrzeugen weiter in das Zeltlager vordrangen.
Mick Deane, ein Kameramann des britischen Senders Sky News, wurde erschossen, als er die Straßenkämpfe filmte. Mohammed al-Beltagi, ein führendes Mitglied der Muslimbruderschaft, sagte, auch seine Tochter sei bei der Erstürmung des Protestlagers vor der Rabea-al-Adawija-Moschee erschossen worden.
Das Innenministerium ordnete vorübergehend die Einstellung des Zugverkehrs von und nach Kairo an, offensichtlich um die Bewegungsfreiheit von Protestgruppen einzuschränken.
Die Islamisten hatten die Zeltlager in Kairo vor fünf Wochen errichtet, um Mohammed Mursis Wiedereinsetzung zu erzwingen. Das Militär hatte den Präsidenten am 3. Juli nach Massenprotesten abgesetzt.
Die Europäische Union und die USA verurteilten die Eskalation der Gewalt und riefen die Sicherheitskräfte zur Mäßigung auf. Die Rechte aller Bürger auf Meinungsäußerung und friedlichen Protest müssten gewahrt bleiben, verlangte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton gestern in Brüssel.
Die Bundesregierung appellierte an die Übergangsregierung in Kairo, für eine Beruhigung der Lage zu sorgen. Außenminister Guido Westerwelle zeigte sich extrem besorgt. Erst vor zwei Wochen hatte er mit der Übergangsregierung und den Muslimbrüdern gesprochen. „Wir fordern alle Seiten auf, umgehend zu einem politischen Prozess zurückzukehren, der alle politischen Kräfte einschließt.“ Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül nannte die Vorgänge in Ägypten „völlig inakzeptabel“. Sein Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ließ erklären, auf friedliche Demonstranten zu feuern, sei ein Verbrechen.
Der Iran verurteilte das „Blutbad“ in Ägypten und warnte vor einem Bürgerkrieg. dpa