G9 Eine Schule ist keine Baumschule

Der frühere Wuppertaler Schulleiter Karl W. Schröder hält die Verkürzung der Schulzeit an Gymnasien für gescheitert. In seinem Plädoyer für G9 erklärt er, warum.

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Wuppertal. Die Eltern haben sich offensichtlich durchgesetzt. Eine Partei nach der anderen schlägt vor den Landtagswahlen 2017 in NRW bildungspolitische Reformen vor, die das bestehende Projekt G8 auf die eine oder andere Art beenden.

Die absehbare Abkehr von der flächendeckenden Kürzung der Schulzeit an den Gymnasien ist ein gewaltiger Schritt. Das G8-Gymnasium findet trotz aller Nachbesserungen bei der Mehrheit der Eltern einfach keine Akzeptanz. Umfragen zeigen über die Jahre sehr konstant, dass die große Mehrheit der Eltern das G8-Gymnasium für ihre Kinder ablehnt. Nach der Erhebung der Landeselternschaft der Gymnasien aus dem Jahr 2016 sprechen sich 79 Prozent der Gymnasialeltern für das neunjährige Gymnasium aus.

Die politisch motivierte Entscheidung für die Schulzeitverkürzung G8 war für viele Lehrer an den Gymnasien überraschend, weil kurz zuvor in der ersten Pisa-Studie den deutschen Schülern im Vergleich zu anderen Nationen schwächere Schulleistungen attestiert wurden. Das Ziel, mit einer Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr die Leistungen zu steigern und eine immer heterogenere Schülerschaft individuell zu fördern, war von Beginn an ambitioniert.

Schon bei der Entscheidung für G8 war für die Praktiker in den Schulen erkennbar, dass auf die Schulen zu der zentralen Aufgabe, eine sichere Studierfähigkeit zu vermitteln, zahlreiche neue Anforderungen einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft zukommen. Niemand weiß, wie die Welt aussehen wird, wenn die Kinder, die heute eingeschult werden, als junge Erwachsene mit dem Abitur die Schule verlassen. Nur eins ist sicher: Die durch die Schule vermittelten Kompetenzen und das konkrete Wissen, das sich die Schüler aneignen, können nicht fundiert genug sein. Eine umfassende Bildung ist nicht nur die Voraussetzung für Studium und Beruf, sondern ein zentraler Beitrag zum persönlichen Lebensglück.

Nach der EU-Vereinbarung sollen die Schüler der weiterführenden Schulen zwei Fremdsprachen sicher beherrschen. Deutschland braucht als führender Industriestandort an den Gymnasien ein umfassendes naturwissenschaftliches Angebot. So erlaubt die Organisation der Oberstufe es den Schülern aber nicht, die Fächer Chemie und Physik parallel als Leistungskurse zu belegen. Kunst, Musik und Theater gehören an den Gymnasien traditionell zum unverzichtbaren Bildungskanon. Diese Fächer, die sinnvollerweise durch Angebote in Arbeitsgemeinschaften flankiert werden, stärken in besonderer Weise die Persönlichkeitsbildung. Das alles erfordert Zeit.

Es ist problematisch, wenn Universitäten sich gezwungen sehen, dem Studium Vorkurse mit mathematischen Grundkenntnissen und Schreibübungen vorzuschalten, weil die schulischen Kenntnisse offensichtlich vielfach nicht ausreichen. Es ist die Aufgabe der Schule, die Studierfähigkeit sicherzustellen. Das Abiturzeugnis mit einer nur formalen Berechtigung zum Studium verliert seinen Wert, wenn das Abitur nicht mit eindeutigen Qualifikationen verbunden ist, die sich am späteren Studienerfolg messen lassen.

Nur in der Schule haben die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit und die Muße, sich vielfältige Kompetenzen anzueignen, eigenständiges Denken zu erproben und sich mit grundlegendem Wissen sicher vertraut zu machen. Beides sind unverzichtbare Voraussetzungen für ein lebenslanges Lernen. Zusätzliche Aufgaben kommen hinzu. Beispiele: Das Stichwort Digitalisierung, auch mit der Forderung nach einem neuen Unterrichtsfach „Medienbildung“, steht für ein ganz neues Lernen und ein sich schnell veränderndes Bildungsprofil, auf das die Schulen reagieren müssen.

Der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Christian Schmidt, fordert aktuell die Einführung des Faches Ernährung. Wirtschaftverbände halten mehr Unterrichtsangebote zur ökonomischen Grundbildung und zur Verbrauchererziehung für unerlässlich. Historiker und Sozialwissenschaftler fordern angesichts der immer komplexeren Welt ein vertieftes historisches Wissen und eine klare Werteerziehung. Überall heißt es: „Das muss die Schule leisten. Die Schule hat den Bildungs- und Erziehungsauftrag“. Eine längere Schulzeit am Gymnasium mit erweiterten Angeboten und hohem Qualitätsanspruch bietet die Chance für eine Verbesserung der Allgemeinbildung, für die Sicherung der Studierfähigkeit und für die Festigung der Persönlichkeit.

Eine ganz besondere Anforderung bedeutet für alle Schulformen die Integration der Kinder aus den Flüchtlings- und Zuwanderungsfamilien. Hier sind enorme pädagogische Anstrengungen erforderlich, ohne dass das zentrale Ziel der Schulform Gymnasium, eine sichere Studierfähigkeit zu vermitteln, aufgegeben werden darf. Die Schulen sind die zentrale Bildungs- und Integrationsinstanz der Gesellschaft. Nach dem Integrationsbericht der Bundesregierung hat ein Drittel aller Kinder unter 15 Jahren einen Migrationshintergrund. Besonders auch die gesellschaftlichen Veränderungen und die damit einhergehende Veränderung der Schülerschaft erlauben keine Schule, die zentral auf Schnelligkeit zielt.

Wie Umfragen zeigen, standen auch große Teile der Lehrerschaft an den Gymnasien von Anfang an der Entscheidung für G8 kritisch gegenüber. Um so bemerkenswerter ist die Leistung der Lehrer an den Gymnasien vor Ort, aus dieser schulpolitischen Top-Down-Entscheidung an der eigenen Schule das Beste zu machen. Es wurden unter Hochdruck neue Lehrpläne erstellt, neue Schulbücher angeschafft, neue Stundenpläne aufgestellt, der Besuch der Mensa in den Schulbetrieb integriert, Nachmittagsunterricht eingeführt, Förderkurse aufgestellt, der Anteil der Hausaufgaben reduziert, Unterrichtsinhalte gekürzt oder ganz gestrichen. So wird an den Gymnasien auch unter G8-Bedingungen ein hoch engagierter und anspruchsvoller Unterricht angeboten. Und natürlich kommen viele Schüler — auch mit der Unterstützung durch die Elternhäuser — mit den kognitiven Anforderungen der Schulzeitverkürzung klar. Das zeigen die vielen hervorragenden Abiturzeugnisse.

Aber all das kann das Grundproblem nicht beseitigen. Die Schülerinnen und Schüler werden für die gestellten Anforderungen immer jünger. Da zusätzlich zu der Schulzeitverkürzung auf G8 auch die Einschulungstermine an den Grundschulen vorgezogen wurden, kommen jetzt immer jüngere Kinder in die Eingangsklassen der Gymnasien. Neunjährige Gymnasiasten sind plötzlich keine Seltenheit mehr. Damit sind die 17-jährigen Abiturienten jetzt nicht mehr die Ausnahme, sondern fast die Regel.

An den G8-Gymnasien steht die zeitliche und psychische Belastung der Oberstufenschüler vielfach in der Kritik. Bei im Schnitt 34 Pflichtstunden in der Woche zuzüglich unvermeidlicher Freistunden und der jetzt verbindlichen Mittagspause sind Schultage von 8 bis 17 Uhr für Oberstufenschüler nicht mehr ungewöhnlich. Mit der dazugehörigen Vielzahl von Klausuren, die vorzubereiten sind, Hausaufgaben, Protokolle und Referate, die zu Hause anzufertigen sind, erreicht die zeitliche Belastung der Schülerinnen und Schüler der Oberstufe eine neue Dimension. Die Belastung fällt mit einem systemimmanenten Notendruck zusammen. Viele Schüler bringt das an ihre Grenzen. Da bleibt kaum Zeit für Sport, Hobbys und außerschulische Aktivitäten.

Vor allem die Lehrer der Gesellschaftswissenschaften und der Fächer Deutsch, Philosophie, Religion beklagen, dass Unterrichtsthemen und Texte mit Schülern, die ein Jahr jünger sind, nicht auf dem gleichen Niveau wie mit älteren Lerngruppen zu bearbeiten sind. Es ist nach den Rückmeldungen vieler Lehrer ein gewaltiger Unterschied, ob Goethes „Faust“ oder Texte von Immanuel Kant mit älteren oder jüngeren Schülern im Unterricht bearbeitet werden. Ein Lebensjahr bedeutet in dieser Altersgruppe einen enormen Unterschied an Erfahrung und Verständnis.

Wenn man im Blick hat, dass sowohl die Lebensarbeitszeit als auch die Lebenszeit der heutigen Kinder immer länger wird, hat es nur wenig Sinn, gerade an der Zeit für Bildung zu sparen. Zahlreiche Gymnasien hatten sich schon längst auf den Weg gemacht, die Länge der Schulzeit auf die Bedürfnisse der Schüler individuell anzupassen. Die Schüler planten ihre Schulzeit in der Mehrzahl ohne Abweichungen über 13 Jahre bis zum Abitur. Andere nutzten die Jahrgangsstufe 11 für ein Auslandsjahr und setzten die Schulzeit dann in der Stufe 12 an ihrer Stammschule fort. Wieder andere, besonders leistungsstarke Schüler, übersprangen die Jahrgangsstufe 11 und kamen schon so auch unter G9-Bedingungen zu einer Schulzeit von zwölf Jahren.

Beide Schülergruppen, also sowohl die Schüler im Ausland als auch die Springer, erhielten in der Schule Unterstützung im Rahmen von Drehtürmodellen oder auch zusätzlichem Förderunterricht mit dem Unterrichtsstoff der Stufe 11. So konnten zahlreiche Schüler ihre Schulzeit auf eigenen Wunsch verkürzen und ohne Rückstufung die Erfahrungen eines Auslandsaufenthaltes wahrnehmen. Bei einer Rückkehr zu G9 kann man sich an diesem schon an vielen Schulen erprobten Modell orientieren und mit zusätzlichen Ressourcen ausbauen.

Die Zusammensetzung der Schüler auch an den Gymnasien ist heterogen. Über die Wahl der weiterführenden Schule entscheiden die Eltern der Grundschüler. In einigen Städten in NRW liegt die Übergangsquote von der Grundschule zum Gymnasium bei über 50 Prozent. Wenn es richtigerweise das schulpolitische Ziel ist, möglichst viele Jugendliche zum Abitur zu führen, dann muss das Gymnasium für alle Kinder, die eine Gymnasialempfehlung der Grundschule haben, ein individuelles Angebot machen. Schüler, die langsamer lernen, die Defizite in der deutschen Sprache haben, die während ihrer Schulzeit erkranken oder mit vielfältigen Problemen zu kämpfen haben, brauchen mehr Zeit. Die Unterstützung dieser Kinder bedeutet, dass für diese Schüler auch ein 14. Schuljahr ermöglicht werden muss, damit auch sie eine sichere Studierfähigkeit erlangen. Die Wiederholung eines Schuljahres auf Antrag der Eltern und in Absprache mit der Schule, ohne das Stigma des Sitzenbleibens, ist ein möglicher Ansatz.

All das zeigt, dass eine Abkehr von einer pauschalen Schulzeit G8 für alle Schüler der Gymnasien sinnvoll ist. Die Gymnasien brauchen eine flexiblere Schulzeit, die unterschiedliche Fähigkeiten und individuelle Bedürfnisse berücksichtigt. Das bedeutet auch, dass die Länge der Schulzeit individuell für jeden Schüler im Laufe seiner konkreten Schulzeit zu entscheiden ist. Dagegen würde ein Nebeneinander von G8- und G9-Gymnasien oder G8- und G9-Zügen an ein und demselben Gymnasium die Schullandschaft weiter auseinanderdividieren und Gymnasiasten erster und zweiter Klasse produzieren. Den Eltern würde eine Entscheidung schon für neunjährige Kinder abverlangt, die im Laufe der Schulzeit nur schwer zu korrigieren ist.

Die Schulpolitik hat jetzt die Chance, die Interessen der großen Mehrheit der Eltern zu berücksichtigen. Angesagt ist der Ausbau eines flexiblen Systems, das jedem Schüler nach seinen ganz persönlichen Fähigkeiten, seinen Interessen, seinen Lebensumständen und seinen Zielen eine individuelle Schulzeit bietet. Eine Schule ist keine Baumschule!