Experte Glaeske über hohen Blutdruck: „Übertherapie gilt es zu vermeiden“

Der Arzneimittelexperte Gerd Glaeske warnt davor, die Grenzwerte für hohen Blutdruck wie in den USA abzusenken.

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Düsseldorf. Weil hoher Blutdruck schwere Krankheiten auslösen kann, gelten in den USA ab sofort strengere Grenzwerte. Deutschland wird vermutlich nachziehen. Ist das sinnvoll? Wir haben bei dem Arzneimittelexperten Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen nachgefragt.

Herr Glaeske, halten Sie eine Neudefinition des gesunden Blutdrucks wie in den USA (also statt 140 zu 90 künftig 130 zu 80 mmHg) auch in Deutschland für richtig?

Gerd Glaeske: Ich halte die Senkung zum einen für überraschend und auch nicht für unproblematisch. Letztlich bedeutet das, dass erheblich mehr Menschen als bisher Arzneimittel einnehmen müssen.

Worin liegt die Gefahr?

Glaeske: Übertherapie sollte dringend vermieden werden. Wir müssen stärker differenzieren als bisher, zum Beispiel bezüglich bestimmter Begleiterkrankungen. Wenn diese Maßnahme der Prävention dienen soll, so muss überlegt werden, ob eine Behandlung mit Blutdrucksenkern einen Nutzen hat im Vergleich zu den unerwünschten Wirkungen zum Beispiel bei älteren Menschen, die ohnehin oft unter Gleichgewichtsstörungen und Schwindel leiden, was dann oft zu Stürzen führen kann.

Wie viele erwachsene Bundesbürger leiden bei den jetzigen Grenzwerten unter Bluthochdruck? Wie viele wären es bei 130/80?

Glaeske: Derzeit sind es hierzulande geschätzt etwa 25 bis 30 Millionen. Die Überlegungen in den USA zeigen, dass diese Zahl um etwa 3,5 bis 4,2 Millionen steigen kann.

Wie haben sich die Grenzwerte im Laufe der Jahre verändert?

Glaeske: Vor 50 Jahren hielt man es noch für gefährlich, wenn der obere systolische Blutdruckwert unter 180 sinkt. Man nahm an, dass das Gehirn diesen Druck zum Arbeiten braucht, um ausreichend mit Blut versorgt zu werden. Dann kam eine Phase, in der man glaubte, je niedriger der Blutdruck liegt, desto besser sei es, die Zielwerte lagen da zwischen 120 zu 70 mmHg. Seit vielen Jahren gilt: Unter 140/90 muss der Blutdruck ohne sonstige Risikofaktoren nicht unbedingt sinken. Bei Menschen über 80 Jahren gehen wir sogar davon aus, dass eine Absenkung des oberen Werts auf 150 bis 160 ausreicht.

Wie sieht es hierzulande mit der Qualität der Behandlung aus?

Glaeske: Längst nicht alle Betroffene wissen, dass sie unter Bluthochdruck leiden. Die „Rule of the half“ gilt noch immer: Etwa 50 Prozent der Menschen werden behandelt. Und von denen wiederum die Hälfte so, dass der zu hohe Bluthochdruck als wirklich gut eingestellt gilt.

Zu hoher Blutdruck kann zu Schlaganfall, Herzinfarkt und Nierenversagen führen. Was können Betroffene außer der Einnahme von Blutdrucksenker tun?

Glaeske: Jeder kann durch den Verzicht auf Nikotin und erhöhten Alkoholkonsum erheblich zur Senkung des Risikos beitragen. Hinzu kommen eine gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung und das Vermeiden von Übergewicht. Die Zahl der Sterbefälle in Deutschland durch Herzerkrankungen hat sich deutlich verringert. So starben 1990 noch 85 625 Menschen am Herzinfarkt, im Jahr 2013 waren es 52 044.

Wie bewerten Sie die Cochrane-Studie, wonach sich kein Nutzen durch die medikamentöse Blutdrucksenkung bei mildem Bluthochdruck ohne Vorerkrankung nachweisen lässt?

Glaeske: Die Publikationen des Cochrane-Institutes sind in der Regel zuverlässig und unabhängig mit hoher Kompetenz erstellt. Das gilt aus meiner Sicht auch für die Publikation zum Nutzen der Blutdrucksenker ohne Vor- oder Begleiterkrankungen.

Wie groß ist hierzulande die Gruppe der Betroffenen mit mildem Bluthochdruck unter 160/100 mmHg?

Glaeske: Wir schätzen, dass dieser Anteil bei etwa 20 bis 30 Prozent der Gesamtzahl liegt.

Wie hoch sind die Ausgaben für Arzneimittel in Deutschland insgesamt und welchen Anteil haben dabei Blutdrucksenker?

Glaeske: Die Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind 2016 um 3,9 Prozent auf 38,4 Milliarden Euro gestiegen. Blutdrucksenkende Mittel haben daran einen Anteil von etwa acht Prozent.

Werden heute mehr Blutdrucksenker verschrieben als vor 20 Jahren?

Glaeske: Eindeutig ja. 2016 wurde eine erheblich größere Menge verordnet, die Kosten pro Dosierung sind aber in der Zwischenzeit durch die deutlich häufiger angebotenen Generika erheblich gesunken. 1996 kostete die Tagesdosierung etwa 0,28 Euro, 2016 noch etwa 0,14 Euro. 1996 wurden 4,1 Milliarden Tagesdosierungen verordnet, 2016 waren es 15,4 Milliarden. Aber: Viele der bei Bluthochdruck angewendeten Mittel werden auch anderweitig eingesetzt, zum Beispiel bei Herzschwäche.