Afghanistan Friedensdorf holt Kinder aus Kabul
Die afghanische Hauptstadt verändert sich. Zu Attentaten und Militärpräsenz kommt die hohe Zahl armer und hungernder Kinder.
Kabul/Oberhausen. Afghanistan ein Jahr nach dem ISAF-Einsatz. Mehr Bettler, mehr Anschläge, mehr Hunger, mehr notleidende Kinder prägen das Land. Es gibt bei Attentaten und durch Sprengfallen verletzte oder getötete Kinder. Doch die neuen Krankheitsbilder afghanischer Kinder heißen Osteomyelitis, Narbenkontrakturen oder Explosionsverletzungen. „Letztere rühren bei unserem aktuellen Hilfseinsatz eher von Hausunfällen wie Ölbränden oder Gasflaschenexplosionen her“, sagt Friedensdorf-Mitarbeiter Kevin Dahlbruch und widerspricht damit ein wenig dem Jahresbericht der Vereinten Nationen, nach dem viel mehr Kinder im afghanischen Krieg bei Kampfhandlungen verletzt wurden oder gar ums Leben kamen.
69 Kinder holte die Oberhausener Kinderhilfsorganisation auf ihrem 75. Afghanistaneinsatz am Mittwochabend in deutsche Krankenhäuser. Allesamt Kinder, deren einzige Krankheitsursache mit dem Zustand der Armut umschrieben ist. Sie bringt Mangelernährung, Hunger, nackte Lehmböden und fehlende Hygiene — all das sind Auslöser, etwa für eine Knochenentzündung, die unbehandelt sehr schmerzhaft wird und durchaus zum Tode führen kann. Ein kleiner Sturz, eine offene Wunde am Bein bedeutet für ein Kind, das in seinem kurzen Leben permanent an Hunger leidet, dass sein schwacher, kleiner Körper keine Abwehrkräfte mehr ausbildet. Gefährliche Krankheiten sind die Folge.
Kabul ist reich an Armut, der Unterschicht fehlt es an allem — vom warmen Essen bis zu warmen Socken, besonders jetzt im Winter. Erst recht können sich arme Eltern keine medizinische Versorgung für ihre Kinder leisten, die diesem Namen wenigstens in Grundzügen gerecht würde.
Die afghanische Wirklichkeit trifft Jahr für Jahr auf eine neue, veränderte Lage. Erst waren es die Kriege, dann die Attentate. Frieden hat in den vergangenen 30 Jahren im Land nie eine Rolle gespielt. Helfer von Friedensdorf International mit Sitz in Oberhausen und Dinslaken kennen alle Geschichten dazu. Sie holen seit 1987 verletzte Kinder aus der afghanischen kalten Welt, um die kleinen Patienten mit Hilfe deutscher Hightech-Medizin versorgen und heilen zu lassen. Das alles geschieht im Verein ehrenamtlich, aber auch die rund 110 deutschen Krankenhäuser operieren die kleinen Patienten aus Krieg und Krise, ohne jemals eine Rechnung zu stellen.
Es ist für das Friedensdorf der 75. Einsatz allein in Afghanistan. Zwischen 40 und 100 Kinder sitzen in jeder Maschine. Seit 30 Jahren landen die hilflosen Kriegs- und Armutsopfer zweimal jährlich am Düsseldorfer Flughafen, gebracht meist von jungen, engagierten Helfern. Freiwillige bis hin nach Japan sind darunter, die ein Jahr und mehr unentgeltlich in Oberhausen helfen. Dann füllt sich das friedliche Kinderdorf im Stadtteil Schmachtendorf mit neuen Patienten, wenn die nicht gleich vom Flugplatz aus ins Krankenhaus gefahren werden.
Die ukrainische Chartermaschine der Yanair brachte am Mittwochabend 88 Kinder an den Rhein, 69 davon aus Afghanistan. Zehn weitere wurden in Usbekistan und Armenien von einheimischen Helfern an Bord gebracht. Das Deutsche Rote Kreuz aus Solingen, Remscheid, aber auch vom Niederrhein oder aus dem bayerischen Miltenberg fährt die Kinder seit Jahren bundesweit in Krankenhäuser, die freiwillig Betten und Operationen anbieten. Im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung sind es bei diesem Einsatz Kliniken in Wesel, Köln, Bergisch Gladbach, dem Ruhrgebiet und dem Bergischen Land, um nur einige zu nennen. Hier ist es besonders die St. Lukas-Klinik in Solingen, deren katholischer Träger es für eine christliche Selbstverständlichkeit hält, zu helfen. Dort, im Stadtteil Ohligs, werden Friedensdorfkinder schon seit Ende der Achtzigerjahre operiert.
In Afghanistan 2017 muss man nicht unbedingt auf eine Mine treten, um schwerste Verletzungen davonzutragen. Der Strom kleiner Patienten versiegt einfach nicht. Einzig die Gründe für eine Verletzung sind verändert. Nur Kinder mit Sprengverletzungen sind auf Friedensdorf-Maschinen weniger geworden, auch weil sie aus den Kampfgebieten nicht so einfach bis nach Kabul durchkommen können.
In der Hauptstadt entwickelt sich eine Ellenbogengesellschaft. Jeder ist irgendwie auf sich gestellt, schlägt sich durch als Tagelöhner, Taxifahrer oder als einer der allgegenwärtigen Mandarinenverkäufer. Und in Kabul wird noch mehr gebettelt als vor Jahresfrist. Es geht nicht nur um Geld. Kinder, die altes Brot erbetteln, sind an der Tagesordnung.
Nach dem ISAF-Einsatz sind nur noch wenige ausländische Soldaten zu sehen. Kabul ist jetzt die Stadt der einheimischen Soldaten. Sie stehen neben Schneehaufen Wache oder starren aus gepanzerten Wachtürmen frierend auf die Straße. Die afghanische Hauptstadt ist die Stadt der hohen Mauern und Betonbarrieren und dennoch die Stadt der feigen Attentate.
Hilfe tut also immer noch not. „Wir werden weiterfliegen“, ist sich der Oberhausener Friedensdorf-Leiter Thomas Jacobs daher auch im Jubiläumsjahr sicher und fügt bitter hinzu: „So lange es Kriege gibt.“