Gauck wirbt für das instabile Projekt Europa
Bei seinem mit Spannung erwarteten Auftritt plädiert der Bundespräsident für eine starke EU.
Berlin. Geschichtslehrer Werner Zieger erklärt es noch einmal: „Er hat noch keine große Rede gehalten. Alle warten darauf. Deshalb ist das heute so wichtig.“ Die Abiturklasse aus Berlin, die an der Kontrolle zum Schloss Bellevue steht, ist wenig aufgeregt.
„Wir hatten vorher noch mal eine Sonderstunde Europa. Alles noch mal durch“, sagt Adrian Berlt, 19. Seine Gruppe ist ausgesucht worden, weil sie eine Europaschule besucht, bilingual deutsch und polnisch. Viele Schüler haben polnische Eltern.
Sie freuen sich besonders, als Bundespräsident Joachim Gauck in seiner 50-minütigen Rede über einen jungen Polen redet, den er in Bayern getroffen hat. Hier fühle er sich als Pole, habe der Student ihm erzählt. In Polen aber hätten die Kommilitonen ihn den Deutschen genannt. „Oft nehmen wir unsere Identität durch die Unterscheidung gegenüber anderen wahr“, sagt Gauck.
Der Bundespräsident definiert die europäische Identität positiv: „Wir versammeln uns für etwas: Für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität.“ Allerdings gebe es nun eine Krise des Vertrauens in das europäische Projekt.“
Gauck legt rasch los, nachdem er leise „Guten Morgen“ gesagt hat. Er liest vom Blatt. Kein Versuch, das rund 200 Köpfe zählende Publikum mitzunehmen. Es ist eine Rede für draußen.
Erst nach über 30 Minuten weicht bei den Zuhörern die Steifheit — als der Präsident an die Briten appelliert: „Wir möchten euch weiter dabeihaben.“ Da wagen die ersten einen Beifall. Und den nächsten gibt es, als er sagt: „Ich sehe in Deutschland niemanden, der ein deutsches Diktat anstreben würde.“
Wer will, kann in der Rede auch Kritik hören. An jenen deutschen Medien, die mit „Geringschätzung oder gar Verachtung“ über Krisenstaaten gesprochen hatten. Und vereinzelt habe es von deutschen Politikern „Kaltherzigkeit und Besserwisserei“ gegeben.
Der Präsident wünscht sich einen europäischen TV-Kanal, „etwas wie Arte für alle, ein Multikanal mit Internetanbindung“. Adrian, der Schüler von der Europaschule, ist zwar jetzt „nicht unbedingt mehr für Europa begeistert“, aber das mit dem neuen Fernsehsender findet er gut.