Nachruf Heiner Geißler: Der Schlichter, der niemals leise sprach

Heiner Geißler war ein wortgewaltiger Intellektueller, der sich seiner Partei, nicht aber Personen verpflichtet fühlte. Auch nicht seinem Förderer Kohl.

Gleisweiler. Aus Heiner Geißlers Sicht war es kein Verrat, als er sich im September 1989 mit Rita Süssmuth und einigen anderen zusammentat, um Helmut Kohl als Parteivorsitzenden der CDU abzulösen und durch Lothar Späth zu ersetzen. Da hatte Helmut Kohl längst durchsickern lassen, dass er Geißler in Bremen als Generalsekretär nach zwölf Jahren von Volker Rühe ersetzen lassen wollte.

Der Ausgang ist bekannt: Der Aufstand scheiterte, Geißlers politische Karriere war faktisch beendet, wenige Wochen später fiel statt Kohl die Mauer; der Bruch zwischen Kohl und Geißler heilte nie wieder. Es sagt viel über Heiner Geißler aus, dass er die versuchte Ablösung Kohls nicht als Putschversuch betrachtete: „In einer demokratischen Partei gibt es keinen Sturz. Wenn ein Amt ansteht, besetzt zu werden, kann jeder für dieses Amt kandidieren“, erklärte Geißler in seinem Interview zu seinem 85. Geburtstag.

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Es kostete ihn im Sommer keine Überwindung, die Anstrengung auf sich zu nehmen, Kohls Totenmesse am 1. Juli im Speyerer Dom beizuwohnen. Heiner Geißler hatte schlicht keinen Grund, Kohl die letzte Ehre zu verweigern, den er menschlich überragte. Bernhard Vogel schilderte vor einigen Jahren, wie Kohl und Geißler sich im Frühjahr 1967 kennenlernten. „Schick mir den doch mal“, habe Kohl gesagt, so Vogel noch nach Jahrzehnten amüsiert: „In der Tat kann man Geißler nicht schicken.“

Dennoch endete das Treffen damit, dass Kohl Geißler den Job des rheinland-pfälzischen Sozialministers anbot. Von da an sah Geißler in der Öffentlichkeit für viele Jahre häufig so aus, wie der „Spiegel“ ihn nannte: „Kohls Kettenhund.“ Es ist nicht überliefert, ob Helmut Kohl jemals wirklich die Doktor-Arbeit von Heiner Geißler gelesen hat, mit der er 1960 als Jurist in Tübingen promovierte: „Das Recht der Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. III des Grundgesetzes.“ In einer Zeit, in der den meisten Konservativen die Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe als Vaterlandsverrat galt und Väter sich für ihre verweigernden Söhne schämten, schrieb Geißler im Schlusswort der Arbeit, es sei widersinnig, wenn der Art. 4 III zur Begründung einer staatsfeindlichen Gesinnung herangezogen werde.

Das „totale Missverständnis“ des Verweigerungsrechts, so Geißler, „besteht darin, dass Art. 4 III als Legitimation zum politischen Kampf gegen diejenigen verstanden wird, die — ebenfalls aus Gewissensgründen — zur Verteidigung des Gemeinwesens mit Waffengewalt bereit sind und die staatlichen Organe zu dieser Verteidigung demokratisch legitim beauftragt haben. Durch diesen Missbrauch werden sowohl das eigentliche Anliegen des Art. 4 III, nämlich der Schutz des Gewissens und der Menschenwürde, wie auch alle diejenigen, die sich wirklich nur ihres Gewissens wegen auf dieses Grundrecht berufen, diskreditiert. Der echte, aus Art. 4 III berechtigte Kriegsdienstverweigerer wird sich zu diesem Staat bekennen, der seine Menschenwürde achtet und gerade deswegen wert ist, verteidigt zu werden.“

Als 15-Jähriger hatte sich Geißler in den letzten Kriegsmonaten dem Morden des Nazi-Staats entzogen: Der Jesuiten-Schüler desertierte. Er tat dies nicht aus Feigheit, sondern aus Überzeugung. Und es steht nicht im Widerspruch dazu, dass er 1983 darauf beharrte: „Ohne den Pazifismus der 30er Jahre wäre Auschwitz überhaupt nicht möglich gewesen.“ Heiner Geißler war früh genug ein eigener Charakter, um mit anderen Standpunkten umgehen und Konflikte aushalten zu können.

Der Wuppertaler Bundestagsabgeordnete und außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, schilderte am Dienstag, wie er als Bundesvorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten Geißler 1987 kennenlernte: „Zu den für mich politisch prägendsten Erlebnissen zählt ein Auftritt gemeinsam mit Heiner Geißler am 10. Dezember 1987 zum Tag der Menschenrechte an der Universität in Frankfurt. Kurz zuvor war bei den Protesten gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens ein Polizist erschossen worden. Die Atmosphäre im prall gefüllten Hörsaal war aggressiv und gewaltgeladen. Unser Auftritt gemeinsam mit dem frisch gewählten AStA-Vorsitzenden des RCDS wurde von Linken und Autonomen niedergeschrien. Im Hörsaal hing ein Transparent: „Geißler in die Badewanne“, in Anspielung auf den Tod des früheren Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel.“ Als der Leiter des Personenschutzes ihnen einen Zettel mit der Nachricht „Rückzug nicht gesichert“ zuschob, habe Heiner Geißler gerufen: „Dann bleiben wir eben hier.“

„Intellektuell brillant, Politik aus Grundsätzen gestaltend und scharf in der Debatte — das war Heiner Geißler. Er war einer unserer Besten“, beschrieb ihn NRW-Ministerpräsident Armin Laschet am Mittwoch. Ohne Geißler wäre die moderne Volkspartei CDU nicht möglich gewesen, so Laschet, der daran erinnerte, wie Geißler die CDU reformierte: „Durch sein Wirken wandelte sich die CDU in den Siebziger Jahren endgültig von einer Honoratioren- zu einer Mitgliederpartei. Mit seinem Namen wird die Verabschiedung des Ludwigshafener Programms 1978 verbunden bleiben, dem ersten Grundsatzprogramm der CDU.“

Genau darin lag letztlich der Grund für den Bruch, den Kohl vollzog: Geißlers Loyalität galt der CDU, nicht einer einzelnen Person. „Ich war nicht Generalsekretär des Kanzleramtes oder des Bundeskanzlers oder des Parteivorsitzenden, sondern ich war Generalsekretär der Partei“, so Geißler vor einigen Jahren. Da hatte er, anders als Kohl, mit dem „unnötigen Krampf“ von damals längst abgeschlossen: „Schade, dass es so gelaufen ist, das ist wahr. Aber das war’s dann auch.“

Zu seinem Selbstverständnis als „General“ gehörte es freilich auch, massiv auszuteilen. Eher damit als mit echter Überzeugung ist zu erklären, dass er die SPD als „fünfte Kolonne“ Moskaus bezeichnete; im Gegenzug beschimpfte ihn 1985 Willy Brandt als den „seit Goebbels schlimmsten Hetzer in diesem Land.“

Geißlers beachtliche Leistungen nach 1997 als Schlichter in Tarifauseinandersetzungen bei Bau, Telekom und Bahn sowie zuletzt im Konflikt um „Stuttgart 21“ waren fast so etwas wie eine Rückkehr zu seinen beruflichen Anfängen: 1962 begann der Jurist als Amtsrichter in Stuttgart. Nur das Leisesprechen fiel Heiner Geißler zeitlebens schwer.