Alternative Fakten: Lügen und Umdeutungen gibt es auch in Deutschland

Alternative Fakten sind in der Politik nichts Ungewöhnliches - das gilt auch für die Lüge.

Helmut Kohl bei einer Pressekonferenz. Archivbild von 1999.

Foto: Wolfgang_Kumm

Berlin. Das ist der Klassiker: Regelmäßig streiten Veranstalter, Polizei und Beobachter darüber, wie viele Protestler nun bei einer Demo mitmarschiert sind. Bei Pegida war dies ein Dauerzoff, ebenfalls bei den Protesten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Dabei geht es immer um Erfolg oder Misserfolg, um die Deutungshoheit. Wer sie gewinnen will, braucht alternative Fakten - sie sind vom Prinzip her auch in Deutschland nichts Neues.

Die Äußerungen von Donald Trumps Spitzenberaterin Kellyanne Conway, der Sprecher des US-Präsidenten Sean Spicer habe "alternative Fakten" zur Zuschauerzahl während Trumps Vereidigung präsentiert, sorgte auch in Berlin für Aufregung. Regierungssprecher Steffen Seibert wurde in der Bundespressekonferenz danach gefragt - er sehe freilich keine Veranlassung "jedes Interview, jeden PK-Schnipsel, jedes Vorkommnis im Weißen Haus zu kommentieren", meinte Seibert abwehrend. Kein Wunder: Niemand weiß besser als Angela Merkels Sprachrohr, dass politische Kommunikation eben auch eine strategische Kommunikation ist, die darauf abzielen muss, mit der Regierungspolitik beim Bürger Punkte zu machen. Das ist Seiberts Aufgabe, und zwar jeden Tag: Fakten zurechtzurücken, die Dinge in Merkels Sinne zu deuten, Falschmeldungen zu korrigieren. Dafür arbeiten im Hintergrund im Bundespresseamt zahlreiche Mitarbeiter.

Das beste Beispiel für diesen gleichwohl schwierigen Spagat ist die Affäre um Jan Böhmermann und sein Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Erdogan im vergangenen Jahr. Damals betonte Seibert im Namen der Kanzlerin, bei dem Werk handele es sich um "einen bewusst verletzenden Text". Später musste er mit Mühe und alternativen Bewertungen den Eindruck zerstreuen, Merkel kusche vor Erdogan. Das war Schwerstarbeit. Bislang sind alternative Fakten eben oft der Versuch gewesen, die Dinge zurechtzurücken - vor allem dann, wenn Politiker vorgeben, sie seien missverstanden worden. AfD-Chef Jörg Meuthen zum Beispiel interpretierte Björn Höckes Dresdner Rede über das "Mahnmal der Schande" in der Hauptstadt deutlich anders als die meisten anderen - damit habe Höcke doch nur den Holocaust als Schande bezeichnet, so Meuthen.

Auch die Grünen kennen das Umdeuten: An einem Tag pro Woche solle es in allen öffentlichen Kantinen kein Fleisch mehr geben, forderte 2013 Renate Künast. Später versuchte sie, die Forderung nach einem Veggie Day, die sich auch im Wahlprogramm wiederfand, mit Fakten zum Klimaschutz und gesunder Ernährung zu verschönern. Auch habe sie kein Verbot verlangt. Doch geholfen hat das weder Künast noch den Grünen.

Alternative Fakten können auch verschlimmbessern. Sind sie aber per se schlecht? Bela Anda, der von 2002 bis 2005 Regierungssprecher von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) gewesen ist, glaubt das nicht. Zusätzliche Fakten könnten Beiträge oder Nachrichten durchaus ergänzen oder relativieren. Wer allerdings wie die Trump-Administration klare Belege ignoriere, der mache aus alternativen Fakten "eine Lüge".

Nun sind auch Lügen in der Politik nichts Ungewöhnliches, Kanzler Helmut Kohl hatte beispielsweise 1990 seine Steuerlüge, die SPD 2005 ihre Mehrwertsteuerlüge. Auch rechnet der Wähler nicht damit, dass Politiker ihm immer die Wahrheit sagen - oder wie der frühere SPD-Chef Franz Müntefering mal meinte: "Wir werden als Koalition an dem gemessen, was in Wahlkämpfen gesagt worden ist. Das ist unfair!"

Ungewöhnlich ist jedoch, dass die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge immer mehr aufgeweicht wird und zum Mittel der Politik geworden ist. Die Kanzlerin hat dieses Phänomen das "postfaktische Zeitalter" genannt. Trump und sein Sprecher sind bisher am weitesten gegangen.