Politik Angst vor dem Verlust der Autonomie
Sabine Neubauer arbeitet als Psychologin für den Verein „Behindert — na und?“ in Wuppertal. Das Bundesteilhabegesetz hält sie für keinen Fortschritt.
Wuppertal. Es begann mit einer Mail. „Ihr Kommentar ,Unser Behindertenbild ist in Bewegung — zum Glück’ hat mich sehr betroffen gemacht und ich möchte Ihnen den Grund dafür erklären.“ Die Erklärung nimmt dann ausgedruckt eine Din-A4-Seite in Anspruch. Sabine Neubauer begründet höflich, aber bestimmt, warum sie das neue Bundesteilhabegesetz anders als der Kommentar ablehnt. Schärfer noch: Die Schwächen des Gesetzes „werden Existenzen und Menschenleben kosten“, schreibt sie.
Ortstermin in der Simonsstraße in Wuppertal. Im Haus Nummer 34—36 hat der 1984 gegründete Verein „Behindert — na und?“ seinen Sitz. In der ersten Etage befindet sich das Büro von Sabine Neubauer. Hier bietet sie für den Verein psychologische Beratung an. Wer sich mit der 56-Jährigen auf Augenhöhe unterhalten möchte, muss sich setzen. Neubauer ist selbst schwer behindert und sitzt im Elektrorollstuhl. Könnte sie noch stehen, wäre sie gerade 85 Zentimeter groß. Die Glasknochenkrankheit begleitet sie seit ihrer Geburt.
Um besser zu verstehen, warum die Diplom-Psychologin das Gesetz, das nach dem Bundestag am 16. Dezember auch noch den Bundesrat passieren soll, als Angriff auf ihre Selbstbestimmtheit begreift, muss man wissen, wie sehr sie in ihrem Leben um ein Maximum an Autonomie gekämpft hat.
Nach der Grundschulzeit auf der Sonderschule für Körperbehinderte lässt sie ein aufgeschlossener Schulleiter auf das städtische Gymnasium in Gevelsberg. Doch in der Pubertät verschlimmert sich die Krankheit, Neubauer muss zwei Jahre pausieren. Als sie an die Schule zurückkehren will, hat die Schulleitung gewechselt. Der neue Rektor winkt ab.
Aber die junge Frau will von ihrem Abiturwunsch nicht lassen. Erst versucht sie es auf einem Internat in Kassel, aber die Entfernung verträgt sie psychisch nicht. Auch ein Versuch über einen Fernkurs scheitert. „Dann hat der Rektor des Bergischen Kollegs in Wuppertal zu mir gesagt: Wenn Sie Abitur haben wollen, machen wir das möglich. Dafür werde ich dem Mann ewig dankbar sein.“ 1987, mit 27 Jahren, ist der ersehnte Schulabschluss endlich geschafft.
Es folgen das Psychologiestudium in Wuppertal, eine anschließende Therapieausbildung und der schrittweise Aufbau der psychologischen Beratung bei „Behindert — na und?“. Der kleine Selbsthilfeverein entwickelt sich über die Jahre zu einem Dienstleister von der Größe eines mittelständischen Unternehmens mit heute 500 Arbeitsplätzen und zahlreichen Angeboten für Kinder mit Behinderungen und ihre Eltern sowie erwachsene Behinderte.
All das ist nur möglich, weil Neubauer, organisiert vom Verein, eine Assistentin in Anspruch nimmt — oder genauer: in Summe heute sechs. Denn um im Alltag die Unterstützung zu bekommen, die nötig ist, um alleine wohnen, Beruf und Freizeit bewältigen zu können, ist ein komplizierter Dienstplan mit zahlreichen Absprachen nötig.
Aber diese Assistenzen sollen künftig vom Sozialamt als Kostenträger „gepoolt“ werden können, stünden dann mehreren Behinderten gemeinsam zur Verfügung. Weil zudem der alte Grundsatz „Ambulant vor stationär“ im neuen Gesetz nicht mehr zu finden ist, fürchtet die Psychologin wie viele andere Behinderte auch, dass Betroffene damit oft gedrängt werden könnten, einen Heimplatz anzunehmen. Derzeit macht in Behindertenkreisen ein entsprechender Fall aus Freiburg die Runde. Im Extremfall, so Neubauer, könne ein Heimplatz für Schwerstbehinderte sogar lebensbedrohlich sein, weil die Wartezeit auf Hilfe länger sei als bei privater Assistenz.
Dabei ist auch Neubauer bewusst, dass beim politischen Verteilungskampf um die Finanzmittel den Interessen der Behinderten auch finanzielle Grenzen gesetzt sind. Aber dass Assistenzen überhaupt so teuer seien, sei auch durch die gesetzliche Forderung nach einem hohen Fachkräfteanteil bedingt, „der zum Beispiel bei mir gar nicht nötig wäre“. Und tatsächlich steige die Zahl der Behinderten durch höhere Lebenserwartung, bessere medizinische Versorgung, mehr Mehrlingsgeburten und prekäre Lebensumstände. Dem werde aber nicht durch mehr Geld im System Rechnung getragen.
Auch die künftige Nichtberücksichtigung des Einkommens von Ehe- oder Lebenspartnern beziehe sich nur auf die Eingliederungshilfe. Da dieses Geld für die Assistenzen aber nicht reicht, werden diese über die „Hilfe zur Pflege“ finanziert. „Und dort wird das Einkommen des Ehepartners weiter herangezogen.“ Will heißen: Die Ehe mit einem oder einer Behinderten mit Assistenzbedarf kann auch den Partner zum Sozialfall machen.
Auf dem Weg, die unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention im Alltagsleben umzusetzen, sieht Neubauer Deutschland im internationalen Vergleich weit hinterherhinken. „In Frankreich und Spanien sind mittlerweile alle Arzt- und therapeutischen Praxen rollstuhlgerecht.“ Und das neue Teilhabegesetz erfülle nicht, was es versprochen habe. „Man muss vor der Zukunft Angst haben.“