Streit um Dokumentarfilm Antisemitismus-Doku: Wie die ARD einen Film vernichtet
Nach wochenlangem Hickhack hat die ARD am Mittwochabend die Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt — Der Hass auf Juden in Europa" ausgestrahlt — und ihr parallel zur Sendung mit einer Fülle von Anmerkungen erst die Glaubwürdigkeit abgesprochen, um dann bei „Maischberger“ die Frage zu stellen: „Gibt es einen neuen Antisemitismus?“
Köln. Vergleichbares hat die ARD noch nie mit einem politischen Dokumentar-Film veranstaltet: Parallel zur Ausstrahlung von „Auserwählt und ausgegrenzt — Der Hass auf Juden in Europa" veröffentlichte der WDR am Mittwoch auf einer Internet-Seite 29 angeblich „rechtlich notwendige zusätzlichen Anmerkungen“, auf die jeweils in Laufbändern am unteren Bildrand hingewiesen wurde.
Zusätzlich wurde der Film mehrfach unterbrochen, um kommentierende Texte einzublenden. Die Einblendungen und Anmerkungen bezogen sich nahezu ausschließlich auf die antisemitische Aussagen und Aktionen von Linken, Palästinensern und Kirchen-Organisationen, die dann relativiert, bestritten oder mit dem Hinweis versehen wurden, die Vorwürfe stammten aus pro-israelischen Quellen.
Bei Twitter und Facebook kritisierten Zuschauer, die Anmerkungen zerstörten den Film und seien länger als die eigentliche Dokumentation. Henryk M. Broder warf dem WDR „miese Tricks in letzter Minute“ vor: Vor die Wahl gestellt, den Film zu senden oder nicht zu senden, habe sich das Haus klammheimlich und ohne Absprache mit den Autoren der Doku dafür entschieden, die Arbeit zu denunzieren und zu verfälschen. „Das ist ein in der deutschen TV-Geschichte einmaliger und einzigartiger Vorgang“, so Broder.
Mindestens so einmalig verhielt sich Arte: Der Sender, der die Dokumentation partout nicht senden wollte, strahlte sie am Mittwochabend dann plötzlich doch mit einer Zeitverzögerung von 45 Minuten aus. Mit Blick auf die öffentliche Diskussion „und um einen identischen Kenntnisstand des arte-Publikums in Frankreich und Deutschland zu ermöglichen“, habe man sich entschlossen, die im Ersten ausgestrahlte Dokumentation und anschließende Diskussionssendung am 21. Juni 2017 zu übernehmen, so der Sender.
Die Dauer-Kommentare zur laufenden Sendung begründete WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn in der anschließenden Diskussionsrunde bei Sandra Maischberger: Insgesamt habe man 25 Mängel oder Fehler gefunden, dazu mehrere Verletzung von Persönlichkeitsrechten, so, die es unmöglich gemacht hätten, den Film einfach zu senden. Maischberger verteidigte, dass der WDR den Autor des Films zu der anschließenden Diskussion nicht eingeladen habe: „Manchmal hat es Vorteile.“
Die WDR-Fußnoten zum Film, nachzulesen unter doku-faktencheck.wdr.de, dürften nachträglich für kaum weniger Diskussionen sorgen als der Film, wie eine schnelle Übersicht zeigt. Beispiel: Der WDR-Kommentar Zum Anschlag auf die Pariser Konzerthalle „Bataclan“ im November 2015, bei dem 90 Menschen ums Leben kamen. Der Film stellte dar, dass die nach Israel ausgewanderten ehemaligen Besitzer bereits seit 2008 massiv bedroht wurden und bereits 2011 nur knapp einem geplanten Anschlag entgingen.
Das kommentiert der WDR so: „Es gibt keinerlei Belege dafür, dass der Anschlag auf das Bataclan im November 2015, zu dem sich der IS bekannt hat, antisemitisch motiviert war. Er kann deshalb nicht in eine Aufzählung antisemitischer Attentate aufgenommen werden.“ Es gibt ein Video aus dem Jahr 2008, dass zeigt, wie mit Palästinenser-Tüchern Vermummte das „Bataclan“ bedrohen, weil dort Spenden-Galas für Israel stattfinden. Die Band „Eagles of Death Metal“, die am Abend des Anschlags spielte, wurde schon Monate vorher von pro-palästinensischen Musikern kritisiert, weil sie sich weigerte, sich einem Boykott Israels anzuschließen. Keinerlei Belege?
Vielleicht sollte sich der WDR-Rundfunkrat zudem dafür interessieren, welche redaktionellen Interna welchen in dem Film kritisierten Organisationen zu welchem Zeitpunkt zugänglich gemacht wurden. Ursprünglich wurden in dem Film die Kirchen-Hilfswerke „Brot für die Welt“ (evangelisch) und „Misereor“ (katholisch) als Gelbgeber für Nicht-Regierungsorganisationen und Veranstaltungen genannt, die (auch) an Boykott-Kampagnen gegen Israel beteiligt sind. Am Dienstag erklärte Misereor, die Organisation komme in dem Film gar nicht vor. Am Mittwochabend hieß es in einer der WDR-Fußnoten zum Film: „An dieser Stelle wurde zudem Misereor aufgeführt, die mit 1,7 Millionen Euro Projekte in Israel und palästinensischen Gebieten unterstützt haben sollen. Diese Behauptung wurde nach kritischer Rückfrage von den Autoren aus dem Film geschnitten.“ Mieserer will sein Wissen über das Nicht-Vorkommen aus der Online-Variante von Bild.de bezogen haben.
Dass die an den Film anschließende Diskussion bei Maischberger den Frage-Titel „Israelhetze und Judenhass: Gibt es einen neuen Antisemitismus?“ trug, muss bei jedem ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen, der den Nachrichtentag verfolgt hat: Am Mittwoch debattierte der Deutsche Bundestag eine Stunde lang den „Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“, der seit April vorliegt (siehe hier: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf).
Bis auf die ARD und die Runde ihrer Pseudo-Experten bei Maischberger stellt sich niemand die Frage, ob es einen neuen Antisemitismus gibt, sondern wie umfangreich das gesellschaftliche Maßnahmen-Paket sein muss, um ihn wirksam zu bekämpfen. Die wichtigsten Forderungen des Expertenkreises, zu denen am Mittwoch alle Fraktionen grundsätzliche Zustimmung signalisierten lauten:
1.) Berufung einer/s Antisemitismusbeauftragten und Verstetigung eines unabhängigen Expertenkreises
2.) Konsequente Erfassung, Veröffentlichung und Ahndung antisemitischer Straftaten
3.) Dauerhafte Förderung von Trägern der Antisemitismusprävention
4.) Schaffung einer ständigen Bund-Länder-Kommission
5.) Langfristig angelegte Forschungsförderung zum Antisemitismus
Nichts von dem kam in der Maischberger-Runde zu Sprache, in der Michael Wolffsohn (Historiker) und Ahmad Mansour (Psychologe) den Film verteidigten, während die bekannt kritisch zu Israel positionierten Gäste Gemma Pörzgen (Journalistin), Rolf Verleger (ehemaligen Mitglied im „Zentralrat der Juden in Deutschland") und Norbert Blüm (CDU-Politiker) in das Muster verfielen, statt über Antisemitismus über den Nahen Osten diskutieren zu wollen — was ihnen mit Moderations-Unterstützung von Maischberger auch gelang.
Die traurigste Figur gab Norbert Blüm ab, der sich beklagte, vom Zentralrat der Juden als Antisemit bezeichnet zu werden, um anschließend kein antisemitisches Klischee auszulassen: Dass das eine „Keule“ gegen Israel-Kritik sei, man doch sagen dürfen müsse, dass die Palästinenser „Terror“ ausgesetzt seien. Sein gesamtes Unverständnis brachte Blüm in dem Satz unter: „Ich hätte einen Film erwartet, der die Fehler von beiden Seiten zeigt.“ Und niemand in der Runde sagte Blüm, dass es bei Antisemitismus keine zwei Seiten gibt, sondern dass die Ursache immer nur auf einer liegt.
Vor nicht einmal zwei Wochen hat das EU-Parlament alle Mitgliedstaaten aufgefordert, nationale Koordinatoren zur Bekämpfung von Antisemitismus zu ernennen. Und um die Strafverfolgung effektiver zu gestalten, sollten die Staaten die Definition der „Internationale Allianz für Holocaust-Gedenken“ (IHRA) übernehmen, was Antisemitismus eigentlich ist. In Maischbergers Runde vermochte das keiner zu erklären — bloß, welches antisemitische Geschwätz man lieber nicht so genannt haben möchte.
Die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die als Hass auf Juden zum Ausdruck gebracht werden kann. Die rhetorischen und physischen Bekundungen von Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Individuen und/oder ihr Eigentum sowie gegen Institutionen und religiöse Einrichtungen der jüdischen Gemeinschaft.“