Deutschland Arm trotz Arbeit
11,3 Millionen Erwerbstätige müssen vor unerwarteten Ausgaben kapitulieren.
Berlin. Jeder vierte Erwerbstätige in Deutschland kann nach eigenen Angaben unerwartete Ausgaben in Höhe von 980 Euro nicht bestreiten. Das geht aus einer Datenübersicht des Statistischen Bundesamtes hervor, die unserer Zeitung vorliegt.
Den aktuellen Zahlen zufolge sind 11,3 Millionen Erwerbstätige von dem Problem betroffen. Das ist ein Anteil von rund 26 Prozent an allen Erwerbspersonen. Dabei kann es sich um Beschäftigte im Niedriglohnsektor handeln, aber auch um Arbeitnehmer, die deshalb in Teilzeit arbeiten, weil sie möglicherweise keine passende Vollzeitstelle finden. Ihre angespannte finanzielle Lage zeigt sich auch in anderen Aspekten, die vom Statistischen Bundesamt abgefragt wurden.
So haben rund 1,8 Millionen Erwerbstätige Schwierigkeiten, ihre Miete oder Rechnungen etwa für Strom und Gas zu bezahlen. Fast 1,5 Millionen verzichten wegen finanzieller Engpässe auf ein angemessenes Heizen ihrer Wohnung. Etwa zwei Millionen können sich an jedem zweiten Tag keine vollwertige Mahlzeit leisten. Und für immerhin 5,9 Millionen Erwerbstätige ist selbst nur ein einwöchiger Urlaub außerhalb von zu Hause nicht finanzierbar. Kommen mehrere dieser Faktoren zusammen, sprechen Fachleute von einer erheblichen materiellen Entbehrung. Die Daten werden im Rahmen einer regelmäßigen Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen in den EU-Mitgliedsstaaten erstellt. In Deutschland wurden dafür im vergangenen Jahr rund 13.000 private Haushalte befragt. Die 980 Euro, die in der aktuellen Untersuchung für unerwartete Ausgaben angesetzt wurden, entsprechen ungefähr der von der EU definierten Armutsgrenze.
Darunter fiel im vergangenen Jahr, wer in Deutschland weniger als 987 Euro im Monat zum Leben hatte. "An Millionen von Beschäftigten geht das vermeintliche Arbeitsmarktwunder in Deutschland komplett vorbei", sagte die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Sabine Zimmermann, unserer Zeitung. Eine existenzsichernde Beschäftigung sei für "viel zu viele Menschen immer noch mehr Wunsch als Realität". Um das zu ändern, müsse der Mindestlohn schnellstmöglich auf zehn Euro angehoben werden und ohne Ausnahmen gelten, verlangte Zimmermann.
Gegenwärtig liegt der Mindestlohn bei 8,50 Euro pro Stunde. Nach dem Gesetz soll eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission bis Mitte 2016 über eine Erhöhung des Mindestlohns entscheiden. Diese würde dann zum 1. Januar 2017 wirksam. Danach soll der Mindestlohn alle zwei Jahre angepasst werden.