Europa-Wahlsieger Juncker noch nicht am Ziel
Brüssel (dpa) - Im Kampf um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten muss Europawahl-Sieger Jean-Claude Juncker einen Rückschlag hinnehmen. Beim EU-Gipfel gab es Bedenken aus Großbritannien, Ungarn, Schweden und den Niederlanden gegen eine schnelle Festlegung auf Juncker, der seit drei Jahrzehnten auf dem Brüsseler EU-Parkett mitspielt.
Die 28 Staatenlenker setzten in der Nacht zum Mittwoch den Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy als Vermittler ein, um mit dem Europaparlament und den Hauptstädten über die delikate Toppersonalie zu verhandeln. Weitere Themen des Gipfel-Dinners waren die Ukraine-Krise und das Erstarken von Rechtspopulisten bei der Europawahl am vergangenen Sonntag.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vermied eine Festlegung auf den luxemburgischen Christsozialen Juncker (59). Die Entscheidung könne nur im Rahmen eines größeren Personalpakets und mit klaren politischen Zielen für die neue Kommission getroffen werden.
Mit Blick auf die konservative Europäische Volkspartei (EVP) sagte die Kanzlerin: „Wir haben Jean-Claude Juncker für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert. Die ganze Agenda kann von ihm, aber auch von vielen anderen durchgesetzt werden. Daran habe ich keinen Zweifel.“
Nach den Gesprächen mit dem Parlament wird Van Rompuy den „Chefs“ einen Personalvorschlag machen. Nächste Etappe im Postenpoker dürfte der kommende Gipfel am 26. und 27. Juni sein. Das Parlament muss dann dem Kandidaten mit absoluter Mehrheit zustimmen. Das kann frühestens Mitte Juli passieren. Die Kommission ist die Brüsseler Machtzentrale, denn nur sie kann EU-Gesetze vorschlagen. Das Mandat von Behördenchef José Manuel Barroso aus Portugal läuft Ende Oktober aus.
Der liberale luxemburgische Premier Xavier Bettel kritisierte die abwartende Haltung des Gipfels: „Wenn man sich auf einen Spitzenkandidaten geeinigt hat, dann muss man das auch respektieren. Ich habe Schwierigkeiten, draußen zu erklären, dass man sich jetzt nicht einig ist über das Wer, Was und Wo.“ Er fügte aber hinzu: „Besser als heute eine Abstimmung mit Spaltung der 28 ist es, sich Zeit zu geben und dann das Resultat zu respektieren.“
Deulicher wurde Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. „Das ist ernüchternd bis erbärmlich vom Europäischen Rat“, sagte er am Mittwoch im Deutschlandfunk.
Ein besonders deutlicher Kritiker einer Juncker-Kandidatur ist der nationalkonservative ungarische Regierungschef Viktor Orban. Der britische Premier David Cameron hat ebenfalls Vorbehalte. Beim Gipfel drückten auch Mark Rutte (Niederlande) und Fredrik Reinfeldt (Schweden) auf die Bremse.
Die Konservativen wurden bei den Europawahlen am Sonntag die stärkste Kraft mit 213 Sitzen im Parlament. Die Sozialdemokraten landeten auf Platz zwei (191 Sitze).
Der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff kritisierte den Umgang der Staats- und Regierungschefs mit Juncker. Der Luxemburger werde als Wahlsieger im neuen Parlament von Sozialdemokraten und Liberalen unterstützt, sagte Lambsdorff dem Sender NDR Info. Er habe kein Verständnis dafür, dass ausgerechnet die Christdemokraten ihren eigenen Mann „wie einen Aussätzigen“ behandelten.
Der scheidende Fraktionschef der Sozialdemokraten im Parlament, Hannes Swoboda, forderte Juncker auf, auch ohne Aufforderung durch die Staats- und Regierungschefs mit Verhandlungen über eine Mehrheit zu beginnen. Der bei den Wahlen zweitplatzierte SPD-Politiker Martin Schulz hatte signalisiert, Juncker bei der Mehrheitssuche in der Volksvertretung den Vortritt zu lassen. Der neue Kommissionschef braucht die Stimmen von mindestens 376 Abgeordneten.
Der EU-Kommissionspräsident ist nur einer von mehreren Spitzenposten auf EU-Ebene. Dazu gehören der EU-Ratsvorsitzende, der die EU-Gipfel leitet, der EU-Außenbeauftragte und möglicherweise auch ein hauptamtlicher Chef der Euro-Finanzminister. Ein Paket müsste ausgewogen sein, etwa mit Blick auf Herkunft oder Geschlecht.
Der Wahlsieg der rechtsextremen Front National in Frankreich und der Erfolg der rechtspopulistischen UKIP in Großbritannien sorgten für Unruhe bei dem Gipfel.
„Wir brauchen eine Einstellung, die anerkennt, dass Brüssel zu groß, zu rechthaberisch und zu eingreifend geworden ist“, meinte der britische Premier David Cameron. Der französische Staatschef François Hollande sagte: „Europa muss sich auf das Wesentliche konzentrieren.“ Van Rompuy wird mit den Staatenlenkern über eine neue strategische Agenda der EU für die nächsten Jahren sprechen. Dabei gehe es vor allem um Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und Arbeitsplätze. Auch darüber wird beim Juni-Gipfel gesprochen werden.
Weiteres Thema des Abendessens war die Ukraine-Krise. Die Gipfelrunde forderte Russland zur Zusammenarbeit mit dem neuen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko auf. Moskau solle auch den Rückzug der Streitkräfte von der ukrainischen Grenze fortsetzen und den Einfluss auf die bewaffneten Separatisten nutzen, um die Lage in der Ukraine zu deeskalieren. Mit Sanktionen wird Moskau nicht gedroht. Merkel schloss allerdings weitere Strafmaßnahmen gegen Russland nicht aus, falls es zu einer neuen Destabilisierung im Osten der Ukraine komme.