Fall Amri: Bilanz des haarsträubenden Versagens auf vielen Ebenen

Der Sonderermittler Bruno Jost spart bei der Vorstellung des Abschlussberichts zum Fall Anis Amri nicht mit Kritik.

Eine Schneise der Verwüstung: Attentäter Anis Amri war mit einem Lkw überden Breitscheidplatz in Berlin gefahren. Zwölf Menschen starben.

Foto: Bernd von Jutrczenka

Berlin. „Man hätte etwas flexibler sein und den Hintern heben müssen“, sagte der sonst so korrekte ehemalige Bundesanwalt Bruno Jost an einer Stelle. Der 68-Jährige, vom Berliner Senat als Sonderermittler eingesetzt, stellte gestern seinen Abschlussbericht über die Pannen der Hauptstadt-Behörden im Fall des Weihnachtsmarkt-Anschlages vom 19. Dezember 2016 vor. Das Papier vervollständigt das Bild von teilweise haarsträubendem Versagen auf vielen Ebenen.

Der Gipfel: Die Festnahme des späteren Attentäters Anis Amri am 29. Juli in Friedrichshafen, fünf Monate vor dem Anschlag, bei dem zwölf Menschen starben. Der als Top-Gefährder eingestufte Tunesier hatte versucht, mit zwei gefälschten Ausweisen in die Schweiz zu reisen. Doch auf die Idee, sein Handy zu durchforsten, kam niemand. Auch reiste kein Spezialist zur Vernehmung an. Das erledigte „der Kriminalobermeister von der Nachtschicht“, meinte Jost ziemlich bitter. Dabei wäre dies ein Moment gewesen, um Amri mindestens wegen Urkundenfälschung für längere Zeit festzusetzen — und dann vielleicht abzuschieben.

Die Pannenserie begann bei den Ausländerbehörden. Der nach dem Anschlag auf der Flucht in Mailand erschossene 24-jährige Tunesier konnte sich unter 14 verschiedenen Identitäten seit 2011 zunächst in Italien und dann seit 2015 in Deutschland mehrfach an verschiedenen Orten registrieren. Niemandem fiel das auf. Die Behörden kooperierten nicht — oder nutzten die technischen Möglichkeiten nicht. So scheiterte die Abschiebung Amris immer wieder auch deshalb, weil Nordrhein-Westfalen, wo er zuletzt offiziell lebte, glaubte, die von Tunesien verlangten Handflächenabdrücke zur sicheren Identitätsfeststellung nicht zu haben. Dabei waren die längst in die Computer eingespeist worden.

Kaum nachvollziehbar ist auch, was passierte, als Amri im Februar 2016 auf dem Berliner Busbahnhof überprüft wurde. Man fand zwei Handys bei ihm. Das BKA las sie auch aus und schickte die Chats an die Landeskriminalämter in Nordrhein-Westfalen und Berlin. Zur weiteren Auswertung. Doch die unterblieb einfach.

Im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern wurde über Amri so häufig gesprochen, wie „sonst fast über keinen Gefährder“, sagte Jost. Trotzdem brach das Berliner Landeskriminalamt die Observation des Mannes im Sommer schon nach sechs Wochen ab. Man hatte keine verdächtigen Terroraktivitäten registriert. Dass Amri zu der Zeit mächtig in den Drogenhandel einstieg, wussten zwar die Telefonüberwacher vom LKA. Die Observierer aber erfuhren das nicht.

Auch nach dem Blutbad selbst gab es zahlreiche Pannen. Das begann schon damit, dass Amris Portemonnaie mit Identitätspapieren erst einen Tag später im Führerhaus des von ihm benutzten Lastwagens gefunden wurde. Zudem fand Jost heraus, dass die Berliner Polizei eine Fahndung nach möglichen Tätern erst drei Stunden nach dem Anschlag einleitete. Besonders pikant schließlich sind die Feststellungen des Ermittlers, dass beim Berliner Landeskriminalamt nachträglich Akten manipuliert wurden, um Fehler zu vertuschen. Der neue Innensenator Andreas Geisel (SPD) erstattete deswegen Anzeige.

Politische Verantwortung hat bisher niemand übernommen. Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) blieb bis zu seiner Abwahl im Mai ebenso ungerührt im Amt, wie sein Berliner Pendant Frank Henkel (CDU), dessen politische Karriere letztes Jahr allerdings ebenfalls mit Abwahl endete.

Der komplette Bericht unter bit.ly/Bericht_Amri