Forscher: Wutbürger machen das Regieren schwieriger

Berlin (dpa) - Sie demonstrieren gegen Kohle- oder Windkraft, gegen Bahnhöfe und Flughäfen. Der Bürgerprotest ist meist punktuell und lokal - und wird von immer mehr Älteren getragen.

Und die stammen vor allem aus dem Bildungsbürgertum, haben Abitur und Studium, sind Diplom-Ingenieure und Naturwissenschaftler und verstehen sich als bestinformierte Gegenexperten, nicht als Technik-Feinde. Zusammen bilden sie einen „gut organisierten Partizipations-Lobbyismus“, sagte der Göttinger Demokratieforscher Franz Walter am Mittwoch in Berlin.

Er stellte die Ergebnisse einer von ihm herausgegebenen, vom Mineralölkonzern BP finanzierten Gesellschaftsstudie „Die neue Macht der Bürger - Was motiviert die Protestbewegungen?“ vor. Darin schreibt Walter: „Spätestens zwischen 2015 und 2035 werden sich Hunderttausende hochmotivierter und rüstiger Rentner mit dem gesamten Rüstzeug der in den Jugendjahren reichlich gesammelten Demonstrationserfahrungen in den öffentlich vorgetragenen Widerspruch begeben.“

„Am Anfang steht nicht etwa die Wut, sondern Misstrauen“, sagte Walter. Dieses finde sich dann auch bei Politikern wider, was am Ende zur „Misstrauensgesellschaft“ führe. Für den Demokratieforscher ist „der Dissens das Elixier für Entkrustung.“ Man befinde sich am Beginn einer Diskussion: „Wie kann Demokratie überhaupt noch funktionieren.“

Die Forscher sprachen mit Demonstranten und Aktivisten der Occupy-Bewegung, beobachteten Demos und Mahnwachen. Eine Erkenntnis daraus: Der zivilgesellschaftliche Protest ist nicht staatsfeindlich und auch nicht technik-feindlich, sagte Walter. „Gut, dass es diese Gruppen gibt.“ Die Forderung nach Systemveränderung, also nach direkter Demokratie, sei bei den Protestlern „nicht sehr enthusiastisch“ verankert.

Die „kleinen Leute“ seien kaum noch mit dabei, auch nicht „die Marginalisierten und Prekarisierten“, also Hartz-IV-Bezieher. Auf die Straße gingen inzwischen vor allem jene, die artikulations- und kommunikationsfähig sind. Die Protestler sähen sich selbst als „ganz besonders aufgeklärt“, den Rest dagegen als manipulierbar. Darin zeigten sich „Selbstgerechtigkeiten und Anmaßungen“.

Das Altern der Republik werde - schreibt Walter - keineswegs zu Gleichgültigkeit in den öffentlichen Angelegenheiten führen - „im Gegenteil“. Die Protestler „gehen weiterhin auf die Straßen der Republik, demonstrieren gegen Stromtrassen, Flugzeuglandebahnen und Windräder. Sie organisieren Kampagnen gegen Bildungsreformen und mobilisieren gegen die Macht der Atomindustrie“. Der Vorstandschef von BP Europa SE, Michael Schmidt, erhofft sich von der Studie Hinweise darauf, wie die Gesellschaft in Zukunft mit Protesten umgehen und sie nutzbar machen könne.