Gedenkfeier zu Neonazi-Morden: Kerzen und eine Geste der Versöhnung
Bewegende Worte auf Gedenkfeier für Neonazi-Opfer. Merkel entschuldigt sich für falsche Verdächtigungen.
Berlin. Mehr als 30 Minuten vergingen, ehe zum ersten Mal Applaus aufbrandete. Den Satz aus Bachs Violin-Konzert, die Rede der Kanzlerin — alles hatten die 1200 Gäste am Berliner Gendarmenmarkt ohne Beifall hingenommen, so wie es bei Gedenkfeiern üblich ist. Dann tritt ein älterer Mann mit grauem Haar ans Rednerpult. Er stellt sich vor: „Ich bin Herr Ismail Yozgat. Mein Sohn starb in meinen Armen.“ Kein Wort der Bitterkeit verlässt danach Yozgats Lippen. In einfachen, ergreifenden Worten bittet er um Aufklärung, um Anerkennung. Das Publikum dankt bewegt mit langem Applaus.
Im Programm der Gedenkfeier für die Opfer der Neonazi-Mordserie war Yozgat (Foto: dpa) nicht als Redner verzeichnet, erst kurz vorher hatte er sich zu dem Auftritt durchgerungen. So bescheiden Yozgats Auftritt ist, so unfassbar ist, was er zu berichten hat.
Kassel, 6. April 2006: Unbekannte betreten ein Internetcafé und schießen auf Ismail Yozgats Sohn Halid. Der Café-Betreiber stirbt noch vor Ort. Erst 2011 stellte sich heraus, dass die Tat wohl auf das Konto der Thüringer Neonazi-Zelle geht. Der Vater hätte Grund für Wut über das lange Versagen der Ermittlungsbehörden.
Doch er ist mit einer Botschaft der Versöhnung gekommen. „Unser Vertrauen in die deutsche Justiz ist groß“, sagt Yozgat. Zahlungen des Staates wolle er nicht: „Meine Familie möchte seelischen Beistand, keine materielle Entschädigung.“ Sein Wunsch sei, dass die Täter und ihre Hintermänner abgeurteilt werden und dass die Straße in Kassel, auf der sein Sohn starb, nach diesem benannt wird.
Die Versöhnungsworte des älteren Herrn prägten die Gedenkveranstaltung, zu der die Spitzen von Staat und Gesellschaft ins Berliner Konzerthaus gekommen waren. Initiiert wurde die Feier vom Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff. Dessen designierter Nachfolger Joachim Gauck verfolgt sie aus der ersten Reihe.
Die Feier sollte die zehn Toten der Anschlagsserie ehren, ein Signal der Entschlossenheit im Kampf gegen den Rechtsextremismus aussenden — und offen mit dem Versagen der Behörden umgehen, die mit Ermittlungspannen und falschen Verdächtigungen gegen Hinterbliebene keine gute Figur gemacht hatten.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bat die Hinterbliebenen um Entschuldigung. Sie bedauerte, dass einige der Familien über Jahre hinweg selbst von den Ermittlern verdächtigt wurden: „Das ist besonders beklemmend, und dafür bitte ich Sie um Verzeihung“, sagte sie. „Wie schlimm muss es sein, über Jahre falschen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein, statt trauern zu können.“
Die Kanzlerin zeigte sich entsetzt über das Gedankengut der Täter, die sich als „Nationalsozialistischer Untergrund“ bezeichneten. Merkel berichtete, dass sie das Bekenner-Video gesehen habe, in dem die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ihre Taten verherrlichten: „Etwas Menschenverachtenderes, Infameres, Perfideres habe ich in meiner Arbeit noch nicht gesehen.“
Für die Hinterbliebenen sprach auf der Feier auch Semiya Simsek, deren Vater im Jahr 2000 das erste Opfer der Mordserie wurde. Simsek schilderte, wie die eigene Familie unter Verdacht geriet: „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein.“ Ihr getöteter Vater sei des Drogenhandels verdächtigt worden. Ihre Verunsicherung sei groß: Sie wolle Deutschland als Zuhause sehen, „aber wie soll ich mir dessen noch gewiss sein, wenn es Menschen gibt, die mich hier nicht haben wollen?“
Eine Antwort auf diese Frage konnte auf der Gedenkfeier keiner geben. Aber Hoffnungen, Erwartungen und gute Absichten wurden geäußert. Zwölf Kerzen flackerten auf der Bühne. Zehn symbolisierten die Opfer, die elfte stand für die bislang unbekannten Opfer von Rechtsextremisten — und die zwölfte Kerze, so deutete es Kanzlerin Merkel, sei das „Symbol der Hoffnung auf eine gemeinsame bessere Zukunft“.