Grundschule: Rechtschreibung ist Schlechtschreibung mit System

„Lesen durch Schreiben“ ist nicht der einzige Grund, warum Rechtschreibung zum Problem wird. Es geht um die Schulkultur.

Foto: klxm.de

Düsseldorf/Siegen. Vor vier Jahren beschrieb Wolfgang Steinig die Rechtschreib-Katastrophe, die in deutschen Grundschulen herangezüchtet wird, anhand einer Mail der kleinen Tanja, die knapp ein halbes Jahr nach dem ersten Schultag begeistert vom Basteln eines Zoos schrieb: „Libe Elke.wir haben Den Zoo aus Pape gmahct unt wir Haben Plastik Tire zumbeischbil Lamas wir heisluftpistole gmahct und einen kjos Die Lamas schbilen uno uno die Roben kinder sint im Wasr Die krokodile Lesen Dort Gips keine Fögel Unser Zoo hat aur f ile zepras Das Girfen kint schdet im Futer Napf Die kengros Ligen über Nander Von Tanja“.

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Das, so der Sprachwissenschaftler, komme dabei heraus, wenn Kinder das Schreiben mit einer Anlauttabelle ohne begleitende Unterweisung in Rechtschreibung lernen. Nur mit Glück und Elternhilfe lernten Schüler heute noch richtig schreiben, so Steinig über die Ergebnisse der Methode „Lesen durch Schreiben“. Mittlerweile ist der Siegener Universitäts-Professor emeritiert, was den Vorteil hat, dass er im Ruhestand noch viel weniger ein Blatt vor den Mund nehmen muss.

Deutschlands Viertklässler sind seit 2011 in Mathematik, beim Zuhören und in Rechtschreibung noch weiter zurückgefallen. Bei der Rechtschreibung lagen 22,1 Prozent der Viertklässler deutschlandweit unter dem verlangten Mindeststandard.

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Um es in der Sprache der kleinen Tanja zu sagen: Inzwischen gips noch fiel weniga Fögel. Laut Steinig ist die Zahl der durchschnittlichen Rechtschreibfehler innerhalb von 30 Jahren von 6,9 auf 12,3 pro 100 Wörter gestiegen. Aus der jüngsten IQB-Bildungstrends-Studie der Kultusministerkonferenz geht hervor, dass Deutschlands Viertklässler seit 2011 in Mathematik, beim Zuhören und in Rechtschreibung noch weiter zurückgefallen sind. Bei der Rechtschreibung lagen 22,1 Prozent der Viertklässler deutschlandweit unter dem verlangten Mindeststandard: Bremen, Berlin, Niedersachsen und Hamburg waren die Schlusslichter, Bayern und das Saarland lagen deutlich über dem Schnitt.

Sie sei keine Freundin der Methode „Lesen durch Schreiben“, drückte sich NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) kürzlich im Interview mit unserer Zeitung um eine Entscheidung herum. In der Opposition gehörte Gebauer zu den Mitverfassern eines Antrags, mit dem die FDP noch 2013 das Verbot des Schreibens nach Gehör forderte, weil es für „katastrophale Defizite in der Rechtschreibung“ verantwortlich sei. Wolfgang Steinig nennt den damaligen FDP-Antrag inzwischen „einigermaßen naiv“, denn nicht allein die Methode „Lesen durch Schreiben“ sei für den Niedergang verantwortlich.

Der Sprachwissenschaftler fand in einer neuen Studie heraus: Es gibt einen Zusammenhang zwischen regionalen politischen Vorlieben, die sich in unterschiedlichen „Grundschulkulturen“ ausdrücken, und der Rechtschreibkompetenz. Steinig unterscheidet in „informelle“ Schul-Kulturen, die die Interessen und Bedürfnisse von Kindern in den Vordergrund stellen: „Das Hier und Jetzt des Kindes steht im Vordergrund. Die Schule soll als ein ,Wohlfühlraum’ des Lernens gesehen werden.“ Die eher „formellen“ Schul-Kulturen seien dagegen eher ergebnis- und zukunftsorientiert. Sie sähen sich im Gegensatz zu den informellen Schulen „als Institutionen, die einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen haben, nämlich Kinder in angemessener Form auf die Welt der Erwachsenen vorzubereiten. Sie sind am Erfolg und an der Zukunft der Schülerinnen und Schüler im späteren Leben ausgerichtet.“

Das sehr verkürzte Ergebnis seiner Untersuchungen: Wo SPD, Grüne und FDP das Sagen haben, wird bei der Rechtschreibung eher geschludert, bei der CDU hält sich immerhin ein mittleres Niveau — wo aber die Linke regiert, stehen Rechtschreibung und Grammatik wie eine Eins auf dem (DDR-)Kasernen-Hof.

Ein kaum weniger verblüffendes Ergebnis der Studie: Ein wichtiges Indiz für die Rechtschreibleistung ist, ob Grundschulkinder ihre Lehrer duzen statt siezen. Dort wo sie lange „du“ sagen dürfen, bleibt auch ihr Sprachniveau länger zurück. Ein Grund: Fremde Erwachsene, die von Kindern geduzt werden, reden mit diesen Kindern inhaltlich und sprachlich weniger „erwachsen“ als mit einem Kind, das schon weiß, dass man Erwachsene siezt. Steinig: „Plakativer gewendet: Anspruchsvolleres Sprechen löst anspruchsvolleres Denken aus.“

Der Anteil der Kinder, die in der Grundschule ihre Lehrkraft duzten, sei generell hoch: Im ersten Schuljahr liege er bei 84,8 Prozent und sinke im vierten Schuljahr auf 45,8 Prozent. Dabei ergäben sich relativ große regionale Unterschiede. Steinig: „Drei unterschiedliche Regionen lassen sich in Deutschland unterscheiden: Regionen mit hohen Duz-Quoten im Norden und Westen, geringeren Duz-Quoten im Süden und niedrigen Duz-Quoten im Osten.“

Die Begründungen zur Form der Anrede stünden in einem charakteristischen Bezug zum Umgang mit der Rechtschreibung in den ersten beiden Schuljahren, so hätten die Befragungen zur Studie ergeben. Und: „Zwischen den Duz-Quoten und dem Umgang mit der Rechtschreibung in den ersten beiden Schuljahren besteht ein enger statistischer Zusammenhang: Je verbreiteter die Du-Anrede, desto häufiger schreiben Kinder im Unterricht Texte, ohne auf die Rechtschreibung achten zu müssen.“

Wer das Schreiben in der Schule, insbesondere in den ersten Schuljahren, an den Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten von Kindern orientieren und die Unterschiede zwischen Elternhaus, Kindergarten und Schule möglichst klein und so vermeintlich kindgerecht gestalten wolle, werde auch gegenüber Rechtschreibfehlern tolerant sein, so Steinig.

Im Hinblick auf die Duz-Quoten und die Ergebnisse in Leistungstests ließen sich die Bundesländer in einem Gruppenranking anordnen: Die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg seien durch die höchsten Duz-Raten und die niedrigsten Leistungswerte gekennzeichnet, während Sachsen und Thüringen die niedrigsten Duz-Raten und die höchsten Leistungswerte aufwiesen, so Steinig.

Der Sprachwissenschaftler fand heraus, dass die regionalen, kulturellen und politischen Vorlieben auch mit den Unterrichtsanteilen in Verbindung stehen, bei denen selbst noch gegen Ende des zweitens Schuljahrs im Schreibunterricht nicht auf die Rechtschreibung geachtet wird (siehe Tabelle oben): In NRW spielt sie demnach in 36,7 Prozent der Unterrichtszeit keine Rolle.

Die systematische Schlechtschreibung ist aber nicht das einzige Problem. Nicht nur das Wie des Schreibens leidet, sondern auch das Was. 1972, 2002 und 2012 machte Steinig einen Vergleichstest mit Viertklässlern im östlichen Ruhrgebiet. Die Kinder sahen einen knapp dreiminütigen Film, den sie anschließend schriftlich wiedergeben sollten (siehe untere Grafik). Während 1972 — noch ohne, dass den Kindern dies vorgegeben wurde — die klassische Schul-Textform „Nacherzählung“ dominierte, weichte die Klassifizierbarkeit schon 2002 auf: „Kohärenzbrüche finden sich in den Texten von 2002 circa dreimal so oft wie in denen von 1972, ein Indiz für zunehmende konzeptionelle Mündlichkeit.“

Von 2002 zu 2012 verschwanden nicht nur klassische Textformen, an die Stelle von berichtendem oder erzählendem Schreiben sind mündlich konzeptionierte Kommentare getreten. Steinig sieht darin auch das Ergebnis der „Umstellung von Lehrplänen, die sich auf Lernziele und Inhalte bezogen, auf Bildungspläne, in denen Kompetenzen zum zentralen Faktor der Didaktik wurden“.

Was wiederum bedeutet: Hier wirken die zahlreichen Pisa-Studien nach. Da länderübergreifend keine Lernziele und Inhalte verglichen werden konnten, wurden Kompetenzen gemessen. Mit dem bekannten Ergebnis. Steinig: „Die Kompetenzorientierung führte zwangsläufig zu einer Abwertung von klassifizierbaren Wissensbeständen und Bildungsinhalten. Das Erlernen von Faktenwissen wurde abgewertet, obwohl komplexe Inhalte und Probleme nur verstanden werden können, wenn man auf fundiertes Faktenwissen zurückgreifen kann.“