Bildungssystem wird zerredet Haben Schüler nur Streifenhörnchen-Kompetenz?

Von der Wissensgesellschaft über den Pisa-Schock zur Kompetenz-Steigerung ohne Wissen: Seit zwei Jahrzehnten wird das Bildungssystem zerredet. Schlauere Schüler bringt es nicht hervor.

Bildungssystem wird zerredet: Haben Schüler nur Streifenhörnchen-Kompetenz?
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Berlin/Hamburg. Den Auftakt machte Roman Herzog (1934—2017) vor 20 Jahren, im April 1997: Damals hielt der beliebte Bundespräsident seine berühmte „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“-Rede im Berliner Hotel Adlon, in deren Mittelpunkt er das Bildungssystem stellte. „Bildung muss das Megathema unserer Gesellschaft werden. Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können“, ruckredete Herzog und skizzierte die Grundzüge eines neoliberalen Schulsystems: Acht Jahre Gymnasium sollten reichen, es gehe, so Herzog, in Zukunft noch weniger als bisher nur um die Vermittlung von Wissen. Stattdessen „müssen wir die Menschen lehren, mit diesem Wissen umzugehen“.

Nach Herzogs Ruckrede passierte erst einmal nicht viel. Doch dann kam der Pisa-Schock des Jahres 2001: Deutsche Schüler hatten im Jahr zuvor in Mathematik, Lesefähigkeit und Naturwissenschaften unterdurchschnittlich abgeschnitten, unter den 15-jährigen Testteilnehmern konnte jeder vierte nicht richtig lesen und schreiben — behauptete die Studie. Denn ganz im Sinne Roman Herzogs fragte die Studie nicht erlerntes Wissen ab, sondern erforschte die „Kompetenz“ der Schüler, Probleme zu lösen und Wissen anzuwenden. Damit schlug die Stunde der Kultusministerkonferenz, die einen Paradigmen-Wechsel von einer „Input“- zur „Output-Orientierung“ des Schulsystems einleitete.

An der Humboldt-Universität Berlin wurden nationale „Bildungsstandards“, Vergleichsarbeiten eingeführt, das Zentral-Abitur angeschoben. Kritiker wie Peter Euler, Professor für Allgemeine Pädagogik an der TU Darmstadt, bemängelten bald ein „Bildungsgerede im Bildungsnotstand“. Das Bildungsgerede stehe zunächst einmal im handfesten Widerspruch zur wahrnehmbaren Institutionsqualität: „Sie kennen das: Sonntags hört man noch, dass Deutschland keine Rohstoffe hat außer der Bildung des eigenen Nachwuchses, und am Montag erfährt man, dass 32 Kinder in den fünften Klassen sitzen.“

Wörter wie „Standards“, „Kompetenzen“, „Evaluationen“ seien die Vokabeln einer neuen Bildungsphraseologie. „Bildung soll durch Lernen ersetzt werden, gründliches Verstehen durch Bescheidwissen, Mündigkeit durch Gewitztheit, Kritik durch Cleverness, Tiefsinn durch Inszenierungskompetenz. Beleg für diese Umsteuerung ist die seit Jahren grassierende Methodenseuche und jünger der Präsentationswahn. Die Mittel siegen über die Zwecke, weil diese quasi naturhaft durch die Gewinnwirtschaft festzustehen scheinen. In einer von primitiven Bildbotschaften bestimmten, tendenziell analphabetischen Welt ist diese ein Zeugnis von moralischer Verzweiflung und/oder schon weit gediehener intellektueller Armut“, schimpfte Euler in einer Vorlesung.