Koalitionsstreit über Praxisgebühr und Beitragssenkung
Berlin (dpa) - Zwischen Union und FDP ist offener Streit darüber ausgebrochen, ob mit den Milliardenreserven der Krankenversicherung die Praxisgebühr abgeschafft oder Beiträge gesenkt werden sollen.
Falls Spielräume vorhanden seien, sollte eine Senkung des Beitrags erwogen werden, sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) der „Süddeutschen Zeitung“ (Samstag). „Denkbar sind 0,1 Prozent.“
„Das hat keine Chance“, hieß es nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa am Freitag in Berlin in der FDP-Fraktion. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) habe sich bereits zuvor gegen eine Beitragssenkung gestellt. Die FDP-Fraktion wolle weiter eine Abschaffung oder ein Aussetzen der Praxisgebühr. Eine Abschaffung lehnte Kauder ab.
„Pläne zur Abschaffung der Praxisgebühr gibt es in der Bundesregierung nicht“, stellte Regierungssprecher Steffen Seibert in Namen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) klar. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) lässt derzeit die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reform der Gebühr prüfen.
Bahr sagte: „In die Debatte kommt Bewegung. Wir werden in der Koalition darüber beraten.“ Für ihn sei wichtig, „dass Versicherte und Patienten etwas von dem aktuellen Überschuss haben“. Eine Beitragssatzsenkung würde auch den Arbeitgebern zugutekommen. Kauder räumte zu dieser Möglichkeit Beratungsbedarf ein: „Auch dies sollte genau geprüft werden.“ Vorrangiges Ziel seien dauerhaft stabile Finanzen im Gesundheitssystem.
Der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn sagte: „Der Vorschlag von Volker Kauder, den Beitragssatz zur Krankenversicherung um 0,1 Prozent zu senken, ist angesichts der teilweise absurden Begehrlichkeiten, die die hohen Rücklagen in den letzten Tagen geweckt haben, ein sehr guter Kompromiss.“
Die Praxisgebühr spült jährlich 2 Milliarden Euro zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Eine Beitragssenkung um 0,1 Punkte würde 1 Milliarden kosten. Die Debatte wurde angeheizt, weil die GKV - also die Kassen sowie ihre Geldsammelstelle Gesundheitsfonds - derzeit ein Finanzpolster von 19,5 Milliarden Euro hat. So sind allein 4,4 Milliarden Euro aus dem Fonds nicht gebunden. Schwarz-Gelb hatte Anfang 2011 den Krankenkassen-Beitragssatz von 14,9 auf 15,5 Prozent erhöht.
Eine Bahr-Sprecherin sagte: „Es hat sich gezeigt, dass die Praxisgebühr keine Steuerungswirkung hat.“ Über die Gebühr und das Verfahren des Einzugs beim Arzt werde beraten. Der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Heinz Lanfermann, sagte der dpa: „Niemand will, dass es bei 18 Arztbesuchen pro Jahr bleibt.“ Er will, dass die Praxisgebühr abgeschafft oder zumindest ausgesetzt wird.
Spahn hielt dagegen: „Eine ersatzlose Streichung ist keine Lösung. Die FDP will sich mit 10 Euro wieder auf 10 Prozent kaufen.“ Auf Wunsch der FDP habe man im Koalitionsvertrag vereinbart, das System der Praxisgebühr zu entbürokratisieren. „Bis heute warten wir auf konkrete Vorschläge.“ Lanfermann entgegnete, alle könnten Vorschläge machen.
Der Unionsfraktionsvize Johannes Singhammer (CSU) lehnte in den „Ruhr Nachrichten“ eine Abschaffung der Gebühr „klipp und klar“ ab. Der FDP-Gesundheitspolitiker Erwin Lotter sagte, die FDP müsse den Druck für ein Ausstieg aus dem „Abkassierungsmodell“ erhöhen.
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles erklärte: „Mit der Abschaffung der Praxisgebühr haben Patienten wieder mehr Geld im Portemonnaie und Ärzte und ihre Mitarbeiter weniger Bürokratie zu bewältigen.“ Die Ärzte wollen die Gebühr ohnehin loswerden, weil die Arztpraxen sie einziehen müssen, das Geld dann aber an die Kassen fließt.
Der Patientenbeauftragte Wolfgang Zöller (CSU) sagte den „Stuttgarter Nachrichten“ (Samstag): „Ich würde die Praxisgebühr gerne abschaffen.“ Allerdings kenne er keinen praktikablen Vorschlag für eine bessere Alternative. Gesetzlich Versicherte ab 18 Jahren müssen zehn Euro zahlen, wenn sie das erste Mal in einem Vierteljahr zum Arzt gehen. Bei einer Überweisung zu weiteren Ärzten muss man die Gebühr nicht noch einmal zahlen. Caritas-Präsident Peter Neher schlug eine Streichung der Gebühr für Arme vor, weil diese Arztbesuche deshalb aufschieben oder vermeiden würden.