Zeitumstellung Lasst die Finger von der Uhr!

Am Sonntagmorgen werden Millionen Deutsche wieder so aussehen, als sei der Erste Weltkrieg nie zu Ende gegangen: Blass, übermüdet und krank. Für nichts und wieder nichts quälen wir uns mit der Sommerzeit.

Foto: Statista/CC BY-ND 3.0

Berlin/Brüssel. Seit dem Höllenjahr 1916 — Millionen Kriegstote, innere Unruhen, Mangel an allem, Hungertote im Steckrübenwinter — sind zwar 100 Jahre verstrichen, doch der damals eingeführte Unfug des halbjährlichen Uhren-Umstellens hat sich unausrottbar festgesetzt. Die Idee der „Sommerzeit“ hat nicht nur das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Nazi-Zeit und die deutsche Teilung überlebt, sondern ist dank der Richtlinie 2000/84/EG des Europäischen Parlaments und des Rates seit 2001 praktisch unabschaffbar.

Sie richtet alle sechs Monate das genaue Gegenteil ihres vorgeblichen Ziels an. Die sehr zutreffende Feststellung der Richtlinie 2000/84/EG, „das ordnungsgemäße Funktionieren bestimmter Sektoren, nicht nur der Sektoren Verkehr und Kommunikation, sondern auch anderer Industriesektoren, erfordert eine stabile und langfristige Zeitplanung“, verträgt sich nicht mit dem halbjährlichen Gehampel zwischen Sommer- und Winterzeit. Im Gegenteil.

Ab morgen früh wird die Milchproduktion in Deutschland für eine Woche um zehn Prozent zurückgehen (Grafik: Statista/CC BY-ND 3.0); im Herbst, wenn die Uhren zurückgestellt werden, ist es noch schlimmer. Landwirtschaftliche Großbetriebe stellen die Zeit zur Vermeidung von Randale im Stall daher seit Jahren stufenweise um. Weit empfindlicher als das Vieh reagieren Menschen auf den willkürlichen Eingriff in ihren Bio-Rhythmus. Eine statistische Auswertung von Krankenhausdaten zeigt laut der Krankenkasse DAK, dass an den drei Tagen nach der Umstellung auf die „Sommerzeit“ 54 statt 45 Menschen pro Tag einen akuten Herzinfarkt erleiden — ein Anstieg von 20 Prozent.

Sowohl die Probleme als auch die Ablehnung der Zeitumstellung nehmen in der Bevölkerung zu: 74 Prozent halten die Zeitumstellung für überflüssig (2013: 69 Prozent), in der repräsentativen DAK-Befragung berichteten 81 Prozent, sich nach der Umstellung „schlapp und müde“ zu fühlen, zwei Drittel leiden unter Schlafstörungen, 40 Prozent können sich schlechter konzentrieren oder sind gereizter, ein Viertel der Befragten kam wegen der Zeitumstellung bereits zu spät zur Arbeit.

Das ist auch dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) schon passiert, der im April 2014 in einer für 8 Uhr terminierten Telefonkonferenz der Bundeskanzlerin sieben Minuten zu spät war, weil er seinen Wecker nicht auf Sommerzeit umgestellt hatte und erst vom Sturmklingeln des Handys aufwachte. Das ist aber natürlich nicht der Grund, warum die Unions-Parteien seit 2014 — die CDU sogar mit Beschluss des Bundesparteitags — auf die Abschaffung der verpflichtenden Zeitumstellung durch die EU-Kommission drängt. Die „Sommerzeit“ erreicht schlicht keines ihrer Ziele.

Seit 2014 arbeitete das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) an einer 200-seitigen „Bilanz der Sommerzeit“, die am 16. März im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung präsentiert wurde. Die 200 Seiten in einem Satz: „Die Sommerzeit ist relativ überflüssig.“ Das ist übertrieben freundlich formuliert.

In Deutschland wurde die „Sommerzeit“ 1980 mit dem durch nichts bewiesenen Argument eingeführt, es werde weniger Energie verbraucht, wenn sich der Tag ab dem Frühjahr um eine Stunde nach vorne verschiebe. Dazu heißt es im TAB-Bericht nach zweijähriger Untersuchung, die vor allem Lese-Arbeit bereits vorhandener Untersuchungen war: „Bezieht man die Ergebnisse aller bisher erschienenen Studien auf den nationalen Stromverbrauch der jeweiligen Länder, so ergibt sich beim Effekt auf den Stromverbrauch eine Bandbreite von -0,9 bis ein Prozent. Auch im Bereich Raumwärme wird mehrheitlich von sehr geringen Effekten im Bereich von -0,2 bis 0,2 Prozent ausgegangen. Im Bereich Klimatisierung liegt die Spanne in einer Größenordnung von -0,2 bis neun Prozent.“

Diesem Null-Ergebnis stehen gleichzeitig massive Kosten, Aufwände und Risiken gegenüber. Nach Studien nimmt die Zahl der Verkehrsunfälle in den ersten Tagen nach der Frühjahrs-Zeitumstellung um bis zu 30 Prozent zu. Aufgrund der Zahlen der DAK-Studie nicht verwunderlich: Die Zahl der Krankmeldungen wird am Dienstag wieder sprunghaft um 15 Prozent ansteigen.

Hinzu kommen nicht unerhebliche technische Risiken. Dass Weckdienste versagen, Radargeräte zur falschen Zeit blitzen oder Mitarbeiter wie vor einigen Jahren im niedersächsischen Bad Gandersheim vor ihrem Finanzamt stehen, weil die Zeitschaltuhr sie nicht hereinlässt, mag noch ganz lustig sein. Im Zeitalter der Digitalisierung, wo fast alles mit allem synchronisiert wird, hört der halbjährliche Umstellungsspaß auf. Auf die 17 000 Bahnhofsuhren in Deutschland mag es nicht ankommen, aber auf jede einzelne Schaltung im Fahrbetrieb. Und auf Menschen ist noch weniger Verlass als auf die Technik: Jeder vierte Deutsche stellt die Uhr falsch um, sagt die Statistik.

Das alles hält das TAB übrigens für nicht stichhaltig: die Frage, ob die „Uhrenumstellung“ beibehalten oder abgeschafft werden solle, könne „nur in geringem Maße auf wissenschaftliche Fakten rekurrieren“, sondern müsse letztlich Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Debatten sein. Die Debatten sind in vollem Gange. Bei der Präsentation des TAB-Berichts wies der Linke-Abgeordnete Ralph Lenkert darauf hin, dass es allein in der aktuellen Legislaturperiode des Bundestags seit 2013 zur Abschaffung der Sommerzeit 571 Petitionen gegeben habe — so viele wie bei sonst keinem anderen Thema. Die FDP ist zwar im aktuellen Bundestag nicht vertreten, kämpft aber seit Jahren gegen die Zeitumstellung. Einzig SPD und Grüne interessieren sich nicht für das Thema. Im Ausschuss erklärten ihre Vertreter, dass angesichts der aktuell brisanten Themen wie der Lösung des Flüchtlingskrise das Thema Zeitumstellung nicht oben auf der Agenda stehe.

Das ist eine recht national verkürzte Sicht der Dinge. Die Mehrheit der Staaten weltweit wendet die Sommerzeit entweder nicht oder nicht mehr an. 2015 wendeten laut TAB noch ganze 68 Länder die Sommerzeit an, 161 Länder verzichten inzwischen, darunter Russland (seit 2011), China (seit 1992), Indien, Japan und fast alle afrikanischen und südamerikanischen Staaten. Im Herbst 2015 kamen Chile und Uruguay dazu. Der häufigste Grund: Es bringt nichts.

Das hat (auch) mit der geografischen Lage der Länder zu tun. Besonders dieser Umstand spricht innerhalb der EU gegen eine Einheitszeit. Beispiel aus dem TAB-Bericht: Madrid und Rom liegen ungefähr auf dem gleichen Breitengrad, aber Madrid 16 Längengrade weiter westlich — und trotzdem in einer Zeitzone. In Madrid betrage die Abweichung zwischen der gesetzlichen Uhrzeit von der wahren Ortszeit auch unter Normalzeit schon eine Stunde. Folge: „Die Anwendung der Sommerzeit vergrößert die Abweichung um eine weitere Stunde, was dazu führt, dass die Sonne auch im Hochsommer nicht vor 6.45 Uhr aufgeht, ihren Höchststand um 14.17 Uhr erreicht bzw. um 21.49 Uhr untergeht (am 21. Juni).“ Zu deutsch: Da kann man es auch sein lassen.

Am liebsten wäre vielen Deutschen laut Umfragen, die echte Sonnenzeit würde einfach ganzjährig und ohne Umstellerei durch die Sommerzeit ersetzt. Hauptargument: Die längeren Sommerabende, die im Juni die Dämmerungs-Freizeit tatsächlich um rund 28 Prozent verlängern. Je westlicher man in Deutschland lebt, desto höher ist übrigens der abendliche Zeit-Gewinn. Die Sonne lässt sich von der EU keine Vorschriften machen. In Berlin geht sie unabhängig der Uhr täglich 24 Minuten früher unter als in Wuppertal, und in Krefeld sogar noch zwei Minuten später.