Bundestagswahl Merz, Merkel, AfD - was von einer denkwürdigen Woche bleibt

Berlin · Die AfD verhilft einem Unionsantrag zur Migrationspolitik zur Mehrheit. Die politische Konfrontation gipfelt am Freitag in einer außergewöhnlichen Bundestagssitzung. Eine Woche, die nachwirken wird.

Merz, Merkel, AfD - was von einer denkwürdigen Woche bleibt
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Erst das Bundestagsvotum über einen CDU/CSU-Antrag für eine schärfere Migrationspolitik mit Hilfe der AfD, dann ein beispielloser Showdown im Parlament - der Ton bis zur Bundestagswahl am 23. Februar ist gesetzt. Sieben Lehren aus einer denkwürdigen Woche:

1. Maximale Zuspitzung und Mobilisierung

Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) ist aufs Ganze gegangen und hat die politische Stimmung im Land weniger als einen Monat vor der Bundestagswahl zum Kochen gebracht. Das Ergebnis: maximale Zuspitzung und Mobilisierung der politischen Lager.

Die AfD verhilft einem Unionsantrag für Zurückweisungen an den Grenzen, den SPD und Grüne ablehnen, mit ihren Stimmen zur Mehrheit. Die Union argumentiert, eine richtige Entscheidung werde nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen. SPD, Grüne und Linke sprechen dagegen von einem Tabu- und Dammbruch.

Der Publizist Michel Friedman tritt aus Protest aus der CDU aus, zwei Träger des Bundesverdienstkreuzes, einer davon ein Holocaust-Überlebender, kündigen an, ihre Auszeichnungen zurückzugeben. Zehntausende treffen sich zu Demonstrationen in Großstädten gegen die Union, auch vor deren Parteizentralen, Demonstranten dringen in ein CDU-Büro in Berlin-Wilmersdorf ein und in die Geschäftsstelle des CDU-Kreisverbands Hannover.

2. Das „Tor zur Hölle“ - Bilder und Szenen, die sich einprägen

In Erinnerung bleiben von dieser Woche Szenen und Bilder mit Symbolkraft: Triumphierende AfD-Politiker, die nach der Abstimmung im Plenarsaal für ein Selfie posieren, AfD-Mann Bernd Baumann, der mit geschwellter Brust vom Rednerpult in den Plenarsaal ruft: „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche und das führen wir an!“, die SPD-Fraktion mit bedrückten Gesichtern, versammelt hinter ihrem Fraktionschef Rolf Mützenich, der in einem Pressestatement seiner Empörung Ausdruck verleiht und zwei Tage später an Merz appelliert, das „Tor zur Hölle“ nach dem Sündenfall noch gemeinsam zu schließen oder die Linken-Abgeordnete Heidi Reichinnek, die nach dem AfD-Abstimmungserfolg aufgebracht „auf die Barrikaden!“ ruft.

3. Merkels immer noch langer Arm

Normalerweise halten sich frühere Kanzler mit Kommentaren zu aktuellen Themen zurück. Bei diesem Thema macht Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Ausnahme, greift mit einem außergewöhnlichen Schritt aus der Polit-Rente in die Debatte ein und fällt damit dem Kanzlerkandidaten ihrer Partei mitten im Wahlkampf in den Arm. In einer schriftlichen Stellungnahme erklärt sie Merz' Vorgehen für „falsch“. Lob kommt von SPD- und Grünen-Politikern.

Merz, der seit seinem Amtsantritt als Parteichef gegen Widerstände von Merkel-Anhängern in der eigenen Partei versucht, die CDU auf einen Kontrast-Kurs zu deren Flüchtlingspolitik zu bringen, entgegnet bei einem Wahlkampfauftritt: Dass die AfD seit 2017 im Bundestag sitze, habe etwas mit der Politik der vergangenen Jahre zu tun. „Und dafür trägt auch meine Partei eine gehörige Verantwortung.“ Ohne Merkels Namen zu nennen, ist klar, wer gemeint ist. Politik müsse so weit korrigiert werden, dass die AfD in Deutschland nicht mehr gebraucht werde, sagt Merz.

4. Debatte offenbart gesellschaftliche Zerrissenheit

Es ist die alte hitzig diskutierte Kernfrage, die kurz vor der Bundestagswahl nun wieder ganz oben steht: Wer und welche Politik hat Verantwortung für den Aufstieg der AfD, und wie lässt sich ein weiterer Aufstieg stoppen? Die Anhänger der Denkschule von Merz sind sich sicher: Die Union war unter Merkel zu links, hat Probleme beim Thema Migration zu lange nicht adressiert und damit rechts eine Lücke gelassen, die von der AfD gefüllt wurde. Entsprechend sind sie für eine harte Linie, um der AfD wieder das Wasser abzugraben.

Das sehen Gegner dieses Denkansatzes ganz anders. Sie gehen davon aus, dass dadurch die AfD nicht geschwächt, sondern nur gestärkt wird, weil durch Übernahme schärferer Töne und Standpunkte, die auch die AfD vertritt, die Partei und deren Positionen hoffähig gemacht würden, Wähler sich dann aber lieber gleich für das Original entschieden.

Eine Spaltung zeigt sich in der Bevölkerung in der Bewertung der Vorgänge im Bundestag: Dass die Union einen Antrag unter Inkaufnahme von Stimmen der AfD eingebracht hat, finden 47 Prozent im aktuellen ZDF-„Politbarometer“ gut, 48 Prozent lehnen das ab. Die von Merz geforderte ausnahmslose Zurückweisung von Asylsuchenden ohne gültige Einreisedokumente wird von einer Mehrheit der Befragten (63 Prozent) allerdings unterstützt.

5. Merz hat sich verzockt - oder nicht?

Interpretationssache. Die AfD war besonders schnell mit ihrem Urteil: Merz sei als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet, sagte Parteichefin Alice Weidel. Klar ist, er hat sein sogenanntes Zustrombegrenzungsgesetz zur Einschränkung des Familiennachzugs am Freitag nicht durch den Bundestag bekommen, was eine Niederlage ist. In den eigenen Reihen fehlten Merz von 196 Abgeordneten 12 Stimmen, das sind aber lediglich 3 mehr als am Mittwoch beim Antrag für Zurückweisungen an Grenzen, der noch durchging. Auch bei der FDP zogen einige nicht mit, am Mittwoch 10 der 90 Abgeordneten, am Freitag mit 23 mehr als doppelt so viele. Die nächsten Umfragewerte nach dieser Bundestagswoche werden ein erstes Stimmungsbarometer dafür sein, ob Merz sich verzockt hat oder mit seinem harten Kurs punkten konnte.

6. Trotz allem - Koalitionen der Mitte weiter möglich

Sind nach diesen Scharmützeln überhaupt noch Koalitionen zwischen der Union mit einem Kanzler Friedrich Merz und der SPD oder den Grünen vorstellbar? Politiker dieser beiden Parteien äußern Zweifel. Dieser Mann dürfe auf keinen Fall mehr Kanzler werden, sagte etwa der Grünen-Politiker Anton Hofreiter der „Süddeutschen Zeitung“. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier sprach gar im „Tagesspiegel“ von „Würgereiz, wenn ich heute an eine große Koalition und Herrn Merz als Kanzler denke“. Ausgeschlossen wird trotzdem nichts, denn andere Regierungsmehrheiten sind nicht in Sicht, denn Merz hat mehrfach versichert, dass er nicht mit der AfD zusammenarbeiten wird.

7. Merz statt Musk

Durch die Ereignisse der vergangenen Woche sind andere Themen im Wahlkampf völlig nach hinten gerückt, obwohl sie weiterhin viele Menschen beschäftigen: hohe Preise oder die schwache Konjunktur zum Beispiel. Bei der Frage, welche Themen für ihre Entscheidung bei der Bundestagswahl am wichtigsten sind, landen Frieden/Sicherheit, Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit im Politbarometer noch vor dem Thema Flüchtlinge/Asyl. Ein Thema, das wochenlang den Wahlkampf bestimmte, ist ganz verschwunden: Statt über US-Milliardär Elon Musk und seine AfD-Lobeshymnen sprechen jetzt alle nur noch über Merz.

© dpa-infocom, dpa:250201-930-362323/1

(dpa)