Nur 66,35 Prozent Zustimmung Nahles mit schwerem Dämpfer zur ersten SPD-Chefin gewählt
Wiesbaden (dpa) - Schwerer Dämpfer beim geplanten Neustart: Die SPD hat Andrea Nahles mit einem Ergebnis von nur 66,3 Prozent zur ersten Parteivorsitzenden in ihrer Geschichte gewählt.
„Das ist noch ausbaufähig“, sagte die 47-Jährige zum Zusammenhalt in der Partei nach ihrer Wahl bei einem Sonderparteitag in Wiesbaden. Nahles' wenig prominente Gegenkandidatin, Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange, erhielt überraschend starke 27,6 Prozent. „Wir sollten uns unterhaken“, sagte Nahles. In der SPD hatte es zuletzt heftigen Streit wegen des Eintritts in die neue große Koalition mit der Union gegeben, die Nahles mitausgehandelt hatte.
Nahles ist die erste Frau an der Spitze der Partei mit ihrer knapp 155-jährigen Geschichte. Sie folgt auf Martin Schulz, der nach dem erfolgreichen Abschluss der Koalitionsverhandlungen wegen mangelnden Rückhalts zurückgetreten war. „Du brauchst den Rücken frei, um dich mit dem politischen Gegner zu beschäftigen - und weniger mit dem, was in der eigenen Partei läuft“, sagte Schulz zu Nahles. Er rief die SPD auf, weniger zu streiten. Mit Blick auf den nicht immer fairen Umgang mit ihm und die Demontage durch einige Genossen meinte Schulz: „Zorn hat eh keinen Zweck und Bitterkeit hilft nicht in der Politik.“
Die SPD war bei der Bundestagswahl 2017 unter Schulz auf ein Tief von 20,5 Prozent der Stimmen gesackt. Die Partei schloss zunächst eine große Koalition aus, nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen änderte die Parteispitze die Meinung. Am Ende stimmten in einem Mitgliederentscheid rund 66 Prozent für die große Koalition, in etwa die Zustimmung, die nun auch Nahles erhielt.
Nahles hat einen großen Erneuerungsprozess versprochen, parallel zur Regierungsarbeit. Sie ist auch Vorsitzende der Bundestagsfraktion und bewusst nicht in die Regierung gegangen, um an der Spitze von Partei und Fraktion das SPD-Profil zu schärfen.
„Wir packen das“, sagte sie in Wiesbaden. Die erste Wahl einer Frau an die SPD-Spitze sei historisch. „Viele Frauen kennen diese komische gläserne Decke, an die man immer wieder stößt.“ Diese gläserne Decke in der SPD werde nun durchbrochen. Mit Blick auf Russland forderte Nahles eine diplomatische Offensive. In der Partei gibt es gewissen Unmut über die zunächst sehr harschen Töne gegen Russland des neuen SPD-Außenministers Heiko Maas. Mit Blick auf europakritische Stimmen aus der Union kündigte Nahles eine Umsetzung des im Koalitionsvertrag vereinbarten Europa-Reformprogramms „Buchstabe für Buchstabe“ an.
Als Ziele für die kommende Zeit kündigte sie unter anderem an, den digitalen Kapitalismus zu bändigen und Internetkonzerne mehr zur Kasse zu bitten. Beim großen internen Streitthema Hartz IV sagte sie eine offene Debatte über Reformen zu. Gedanklich dürfe die SPD hier „keinen Stein auf dem anderen lassen“. Vom linken SPD-Flügel kommen Rufe nach Alternativen zu Hartz IV und der Agenda-Politik der Partei.
Durch ihre mitunter polarisierende Art ist Nahles seit jeher kein Parteiliebling. Ein derart schlechtes Resultat hat sie bislang aber noch nie eingefahren - und dies ausgerechnet zu einer Zeit, in der sie gefordert ist wie kaum ein Parteichef vor ihr. Olaf Scholz, der die SPD bis zu Nahles' Wahl kommissarisch geführt hatte, appellierte an die Partei: „Wir müssen uns jetzt an die Arbeit machen.“ Er rief zu mehr Selbstbewusstsein auf. „Dass wir uns wieder zutrauen, dieses Land zu regieren, und dass wir wieder stärkste Partei werden, das muss das Ziel sein, das wir alle gemeinsam verfolgen.“
Nahles' Gegenkandidatin Lange forderte eine Abkehr von Hartz IV und den Agenda-Reformen Gerhard Schröders. Die SPD habe in Kauf genommen, dass heute Menschen arm seien, obwohl sie Arbeit hätten. „Und dafür möchte ich mich bei den Menschen, die es betrifft, entschuldigen.“ Sie rief die Sozialdemokraten zu einem linken Kurswechsel auf. „Wir müssen wieder die Herzen der Menschen erreichen“, forderte Lange. Nach ihrer Niederlage gratulierte sie Nahles und sagte ihr Unterstützung bei der geplanten Erneuerung der Partei zu.
Schulz, der federführend ein Reformprogramm für eine stärkere Kooperation in Europa im Koalitionsvertrag ausgearbeitet hatte, sagte, es könne nicht sein, dass die Union jetzt nach ein paar Wochen schon die Pläne in Frage stelle. „Ohne ein starkes Europa werden die Populisten gewinnen“, rief er den rund 600 Delegierten zu. „Dann gibt es Krieg.“ Die SPD werde als Friedensmacht gebraucht. „Der Kampf für Europa ist auch immer ein Kampf gegen Rechts und in Deutschland ist das ein Kampf gegen die AfD.“ Europa dürfe nicht zerstört werden. Für Schulz gab es viel Beifall und stehende Ovationen.
Nahles' Resultat ist das zweitschlechteste Ergebnis bei einer Wahl zum SPD-Vorsitzenden in der Nachkriegsgeschichte. Nur Oskar Lafontaine hatte 1995 weniger Stimmen erzielt (62,6 Prozent), als er - unterstützt von der damaligen Jusos-Chefin Nahles - den Vorsitzenden Rudolf Scharping stürzte. Die Abstimmung in Wiesbaden war nach 1995 erst die zweite Kampfkandidatur um den SPD-Vorsitz.
Nahles wertete das Ergebnis in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ als Auftrag an sich und die gesamte Partei: „Wir müssen versuchen, in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren das, was es an Diskussionen gibt, an Unzufriedenheiten auch aufzunehmen, zu klären und nach vorne zu wenden. Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt.“
Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert forderte in den ARD-„Tagesthemen“, mit der gepanten Erneuerung der Partei ernst zu machen. Es dürfe jetzt „keine künstliche Ruhe in die SPD einkehren“.
Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Nahles ist und bleibt sogar in der eigenen Partei unpopulär. Offenbar verbinden selbst viele SPD-Delegierte mit Nahles keinen Neuanfang und keine dringend notwendige soziale Wende.“ FDP-Chef Christian Lindner meinte: „Die alte Tante SPD weiß nicht, wohin sie steuert, was sie möchte. Diese innere Unruhe der SPD darf sich nicht auf das Regierungshandeln übertragen.“