Wahl zum SPD-Vorsitz: Andrea Nahles — die Nachsitzende

Sonntagvormittag wählt die SPD Andrea Nahles zur ersten Vorsitzenden in ihrer 155-jährigen Geschichte. Ob die viel beschworene „Erneuerung“ der SPD damit gelingt, ist ungewiss.

Andrea Nahles im November 1996: Als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten hielt sie eine kämpferische Rede (l.) auf dem außerordentlichen Parteitag in Köln.

Wiesbaden/Weiler. „Es war einmal ein Psychiater namens Hector, der dachte, sein Beruf bestehe darin, rosa Brillen zu verfertigen. Denn wenn er seinen Patienten dabei half, ihre Sicht auf die Dinge, auf sich selbst und auf die Welt zu verändern, war das so, als würde er sie mit neuen rosa Brillen ausstatten — oder jedenfalls mit welchen, die nicht so düstere oder verzerrte Bilder lieferten wie die, die sie gewöhnlich trugen und mit denen sie auf den Treppenstufen des Lebens ins Straucheln gerieten.“

Nahles im November 2009: Sigmar Gabriel gratuliert ihr zu ihrer Wahl als Generalsekretärin.

Foto: Peter Kneffel

Mit diesen Sätzen beginnt der jüngste Roman von François Lelord, dessen „Hector“-Romane seit 2002 immer mal wieder auf den Bestseller-Listen landen. Der aktuelle Band erzählt, wie der in die Jahre gekommene Hector am Rande des Burnouts balanciert und darunter leidet, dass seine Ehe mit Clara in einer Sackgasse steckt. Als Therapie verordnet sich der Psychiater Gespräche mit alten Freunden — und findet am Ende eine überraschende Lösung für seine Eheprobleme. Es ist ein Neubeginn. Titel des Buches: „Hector und die Kunst der Zuversicht“. Das Buch, so berichtete die dpa in dieser Woche, ist derzeit die Reiselektüre von Andrea Nahles auf langen Autofahrten durch Deutschland.

Nahles im Januar 2018: Auf dem Sonderparteitag in Bonn riss sie die Genossen mehr mit als der damalige Vorsitzende Martin Schulz (r.).

Foto: Oliver Berg

Das mag man für ganz passend halten für eine angehende Parteivorsitzende, die ihre Magisterarbeit zum Abschluss des Germanistik-Studiums über die „Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“ schrieb. Dafür ist Nahles oft belächelt worden. Katastrophen haben in der seriellen Trivialliteratur die Funktion, die Hauptfiguren des Romans scheitern zu lassen — und eine Wende einzuleiten. Am Ende gibt es ein Happy End, weil die Hauptfigur im Scheitern reift und dadurch ihr Ziel erreicht. Nebenfiguren erkennt man daran, dass sie auf der Strecke bleiben. Das hätte ihr Amtsvorgänger Martin Schulz wissen können, als Nahles ihm 2017 lange vor den Katastrophen des Wahljahres zu seinem damaligen Noch-Freund Sigmar Gabriel ohne Umschweife erklärt haben soll: „Entweder du killst ihn, oder er killt dich.“

Damit kennt Nahles sich aus. Um dorthin zu kommen, wo sie am Sonntag ab 11 Uhr bei ihrer Wahl im Wiesbadener „RheinMainCongressCenter“ stehen wird, war sie mindestens dreimal aktiv am Sturz von SPD-Parteivorsitzenden beteiligt. 1995 teilte sie Rudolf Scharping auf dem Mannheimer Parteitag mit, die Jusos hätten beschlossen, für einen anderen Vorsitzenden zu stimmen. Da war die frischgebackene Juso-Bundesvorsitzende gerade 25 Jahre alt. Scharpings Nachfolger, Oskar Lafontaine, gehörte zu Nahles’ Förderern und bezeichnete sie als ein „Gottesgeschenk“ für die Partei. Nahles überlebte politisch nicht nur Lafontaines Rücktritt von allen Ämtern, sondern auch dessen 1999 gewählten Nachfolger Gerhard Schröder, der 2004 sturzreif war.

Nahles hatte Schröder schon 1998 als „Abrissbirne sozialdemokratischer Programmatik“ bezeichnet, sein Wahlprogramm lehnten die Jusos unter ihrer Führung ab. Von Anfang an kritisierte Nahles die „soziale Unwucht“ der SPD, Schröders Programm sei „konzeptlos, perspektivlos, instinktlos“. Schröders Nachfolger Franz Müntefering als Parteivorsitzenden stürzte Nahles eher versehentlich. Nahles, 2002 aus dem Bundestag geflogen, kandidierte 2005 gegen Münteferings Wunsch-Bewerber Kajo Wasserhövel als SPD-Generalsekretärin — worauf Müntefering den Parteivorsitz niederlegte. Von Gegnern wurde Nahles damals Undankbarkeit vorgeworfen, weil Müntefering sie nach dem Verlust des Bundestagsmandats zur Vorsitzenden einer Kommission zur Bürgerversicherung gemacht hatte, um sie einzubinden. Als echte Hilfe empfand Nahles damals etwas anderes: Über ihre Gewerkschaftskontakte erhielt sie für den Übergang einen Job als Referentin bei der IG Metall in Berlin.

Generalsekretärin der SPD wurde sie erst 2009 — zeitgleich mit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Sigmar Gabriel. Die Jahre bis zur Bundestagswahl 2013, nach der Andrea Nahles als Arbeitsministerin in die große Koalition wechselte, festigte ihre tiefe, innige Feindschaft zu Gabriel, die schon seit dem Knatsch mit Müntefering bestand. In der künftigen Nahles-SPD dürfte Gabriel kein Bein mehr auf den Boden bekommen, denn ihr Rat an Martin Schulz gilt für sie erst recht. Anders als der Romanheld ihrer Reiselektüre, sucht die künftige Vorsitzende zur Selbstvergewisserung nicht bloß das Gespräch mit Verbündeten. Aus ihrem Umfeld wird kolportiert, Nahles treffe sich in letzter Zeit häufiger mit alten Feinden zu sehr persönlichen Gesprächen; Gabriel gehört wohl nicht dazu.

Dafür fällt auf, dass die Parteichefin in spe aus ihrem alten Juso-Netzwerk verlässliche Verbündete in zentrale Stellungen gebracht hat. Sebastian Jobelius, Ex-Juso-Chef in NRW, war bereits ihr Büroleiter im Arbeitsministerium, nun führt er ihr Büro als Fraktionschefin. Benjamin Mikfeld, einst Nachfolger von Nahles als Juso-Bundesvorsitzender, leitete in Nahles Arbeitsministerium die Grundsatzabteilung. Nun tut er das im Finanzministerium von Olaf Scholz; sicher ist sicher. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat den Ex-Juso-Bundesvorsitzenden Björn Böhning als Staatssekretär bekommen. Und SPD-Bundesgeschäftsführer im Willy-Brandt-Haus soll Thorben Albrecht werden, auch ein Juso-Spezi und Ex-Staatssekretär im Arbeitsministerium.

In Interviews und öffentlichen Auftritten der vergangenen Wochen hat Andrea Nahles eine andere Seite von sich betont: Ihre Herkunft aus Weiler in der Eifel, die Liebe zum Dorf, der Heimat und der Bodenständigkeit. Darauf greift Nahles immer wieder zurück, wenn sie besonders glaubwürdig wirken will. „Mein Vorbild ist nicht Willy Brandt, sondern Helmut Kollig aus Kottenheim. Er war einer meiner Lehrer an der Realschule für Deutsch und Geschichte. Und gleichzeitig ein Riesenkarnevalist, der auf der Kottenheimer Karnevalsbühne brillierte. Er hat uns vermittelt, ernsthaft für mehr Demokratie einzustehen, aber trotzdem viel Spaß zu haben. Willy Brandt habe ich nicht persönlich gekannt“, erklärte sie bereits 2013. Kollig ist vor zwei Jahren aus der SPD ausgetreten, weil die SPD in Rheinland-Pfalz die Realschulen kaputtgemacht habe. „Ich fühle mich benutzt und will nichts mehr mit ihr zu tun haben“, sagte er der dpa zu Nahles.

Nach Umfragen traut nur jeder dritte Deutsche Nahles zu, die SPD aus dem Tief zu führen, innerhalb der Partei ist es rund die Hälfte. Auch die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, die gegen Andrea Nahles kandidiert, wird sie Stimmen kosten. Denn kaum etwas macht so deutlich wie die Kandidatur Langes, dass Nahles viel weniger die erste Vorsitzende, als viel eher die letzte Nachsitzerin alter vermachteter Partei-Strukturen ist. Im 17-seitigen Leitantrag des Vorstands heißt es zum Schluss: „Wir müssen die Zukunftsdebatten der SPD mit Leidenschaft führen und zeigen, dass wir es ernst meinen mit dem Kümmern, ernst meinen mit der Gerechtigkeit.“ Beides klingt wenig originell und noch weniger nach Erneuerung. Es klingt nach weniger als 75 Prozent bei der Stimmauszählung und so, als stünde der politischen Serientäterin Nahles in ihrem Liebesroman mit der SPD die Katastrophe erst noch bevor.