Regierung will Netzausbau für Ökostrom forcieren

Berlin (dpa) - Die Bundesregierung setzt nach dem Aus für eine Reihe von Atommeilern auf mehr Ökostrom und forciert den Ausbau der Stromleitungen. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) kündigte an, dass dazu bis zu 3600 Kilometer neue Leitungen nötig seien.

Grüne, Umwelt- und Naturschützer haben grundsätzliche Probleme mit neuen Hochspannungsleitungen. Der Verband der Erneuerbaren Energie geht auch von einem wesentlich geringeren Ausbauvolumen aus.

Auf die Verbraucher dürften höhere Strompreise zukommen - das prognostizierte nach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auch abermals der Wirtschaftsminister. Angesichts der Nuklearkatastrophe von Fukushima in Japan ist jedoch eine Mehrheit der Bundesbürger Emnid-Umfragen zufolge bereit, mehr für Strom zu zahlen, wenn er nicht aus Kernkraftanlagen kommt.

Brüderle will Eckpunkte für ein „Netzausbaubeschleunigungsgesetz“ an diesem Montag offiziell vorstellen. In einem „Bundesnetzplan“ sollen die notwendigen Trassenkorridore ausgewiesen und für den Bau von Hochspannungsleitungen reserviert werden. Mit einem „Offshore-Masterplan“ sollen etwa Windräder vor den Küsten gebündelt an das Stromnetz angeschlossen werden.

Gemeinden müssten den Leitungsausbau „im Interesse des Gemeinwohls“ hinnehmen, heißt es in dem Papier, das am Sonntag bekannt wurde. Sie sollten dafür einen finanziellen Ausgleich erhalten. Brüderle will die Länder-Zuständigkeit bei den Genehmigungsverfahren für Stromtrassen beenden und durch ein bundesweit einheitliches Verfahren ersetzen.

Auch die Grünen sind „für den Ausbau und die Modernisierung der Stromnetze in Deutschland“. Union und FDP warfen sie vor, „seit Jahren den Netzausbau ausgebremst“ zu haben, „indem sie die weithin akzeptierte Erdkabeltechnologie fast überall verhindert haben“. „Brüderle agiert gegen die Bürger anstatt für sie“, kritisierten die Grünen, die bis Ende der kommenden Legislaturperiode 2017 ganz aus der Atomkraft aussteigen wollen.

SPD-Chef Sigmar Gabriel bot der schwarz-gelben Koalition Gespräche über einen neuen Energiekonsens an. Die SPD sei bereit, den Ausbau der Stromnetze zu fördern, die Erdverkabelung voranzutreiben und fossile Kraftwerke zu modernisieren, sagte er der „„Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ (Samstag).

Brüderle sagte der „Wirtschaftswoche“: „Ein schnellerer Umbau unserer Energieversorgung hin zu den Erneuerbaren ist nicht zum Nulltarif zu haben.“ Sollten die Atomkraftwerke dauerhaft abgeschaltet werden, bräuchte Deutschland zur Kompensation neue Gas- und Kohlekraftwerke.

Merkel dringt auf gemeinsame europäische Sicherheitsstandards für AKW und will dies beim Europäischen Rat Ende der Woche thematisieren. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles geht davon aus, dass die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin nach ihrem Meinungsumschwung in der Atom-Frage beschädigt ist. In der „Bild am Sonntag“ sagte Nahles zudem, sie gehe davon aus, dass die Bundesregierung nach den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz (27. März) zu ihrem bisherigen Pro-Atom-Kurs zurückkehren werde.

Die Umweltorganisation Greenpeace kritisierte Warnungen von Vertretern der Stromkonzerne und Brüderle vor steigenden Strompreisen und Versorgungslücken, falls die ältesten Atomkraftwerke dauerhaft abgeschaltet würden. Ganz im Gegenteil sinken laut Greenpeace durch einen zügigen Ausbau der Erneuerbaren Energien die Produktionskosten, da die Rohstoffe Wind und Sonne nahezu zum Nulltarif zu haben seien.

Die Betreiber der 17 Atomkraftwerke wollen während des Moratoriums der Bundesregierung fünf weitere Reaktoren für die Revision vom Netz nehmen, berichtet die Zeitung „Die Welt“ (Montag). Einschließlich des Pannenreaktors Krümmel, der abgeschaltet ist, werden nach den Plänen für die Revisionen Mitte Mai insgesamt 13 der 17 deutschen Atomkraftwerke übergangsweise nicht am Netz sein.

Nach dem Aus für das Atomkraftwerk Neckarwestheim I geht die baden-württembergische FDP davon aus, dass auch Philippsburg I endgültig abgeschaltet wird. FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke wandte sich damit in einem dpa-Gespräch gegen die Haltung von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU).

Eine absolute Mehrheit von 58 Prozent der Menschen in Deutschland wäre bereit, finanzielle Einbußen für atomfreien Strom hinzunehmen. Im Schnitt würden sie 15 Euro mehr dafür zu zahlen, ergab eine repräsentative Umfrage von Emnid für „Bild am Sonntag“.

Tausende Kernkraftgegner demonstrierten am Wochenende in vielen deutschen Städten für den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft. Die größte Kundgebung gab es am Rhein in Neuenburg (Baden-Württemberg) gegen das grenznahe Atomkraftwerk im französischen Fessenheim. Die Atomkraftgegner zählten „mehr als 10 000 Menschen, die meisten aus Deutschland“, die Polizei sprach von 7500 Teilnehmern. Fessenheim ist das mit 34 Jahren älteste Atomkraftwerk in Frankreich. An diesem Montag sollen die Proteste weitergehen: Für 18.00 Uhr haben Kernkraftgegner zu Mahnwachen in mehr als 670 Orten aufgerufen.