Ringen um EU-Kommissionsvorsitz beginnt nach Europawahl
Brüssel/Berlin (dpa) - Machtpoker um den politischen Spitzenposten in der EU: Nach ihrem Sieg bei der Europawahl ringen die Konservativen um Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker mit den unterlegenen, aber gestärkten Sozialisten um den Deutschen Martin Schulz um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten.
Das Erstarken populistischer und rechter Parteien bei der Wahl erschwert eine Mehrheitsfindung. Kanzlerin Angela Merkel rechnet mit wochenlangen Verhandlungen über die Besetzung aller Führungsämter. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen bei einem Sondertreffen an diesem Dienstag erstmals über die Nachfolge von Kommissionschef José Manuel Barroso beraten.
„Wir brauchen ein europäisches Personalpaket“, sagte die CDU-Chefin am Montag in Berlin. Luxemburgs Ex-Regierungschef Juncker sei der Kandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) für das Amt des Kommissionspräsidenten. Weder die EVP noch die europäischen Sozialisten könnten die Personalie aber alleine bestimmen. Der deutsche CDU-Spitzenkandidat David McAllister sah „gute Gründe dafür, dass Jean-Claude Juncker der nächste Präsident der Kommission wird“.
SPD-Chef Sigmar Gabriel betonte in Berlin, gegen die Stimmen der Sozialdemokraten werde kein Kommissionspräsident gewählt. Die EVP werde „Angebote machen müssen“, damit Juncker im Europaparlament eine Zustimmung erhält. „Das ist keinesfalls selbstverständlich.“
Juncker zeigte sich in Brüssel verhandlungsbereit. „Ich bin bereit, über Substanzielles vor allem mit der sozialistischen Partei zu reden, weil es keine Mehrheit jenseits der sogenannten großen Koalition zwischen den Christdemokraten und den Sozialisten gibt.“
Der konservative Parteienblock EVP errang nach den vorläufigen Ergebnissen (Stand: Montag, 15.30 Uhr) nur noch 214 der 751 Sitze im Europaparlament. Bisher waren es 273. Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) kam mit 189 Sitzen (bisher: 196) auf Platz zwei. Auf Platz drei liegen die Liberalen mit 66 Sitzen (bisher: 83). Rechtsorientierte und populistische Parteien legten insgesamt von 64 auf rund 142 Mandate zu. In Frankreich wurde die rechtsextreme Front National (FN) klar stärkste Kraft, in Großbritannien die rechtspopulistische Partei UKIP.
EU-weit blieb die Beteiligung mit etwa 43,1 Prozent konstant niedrig. Rund 400 Millionen EU-Bürger waren zur Wahl aufgerufen.
In Deutschland erreichte die Union laut vorläufigem Endergebnis 35,3 Prozent - ihr schlechtestes Europa-Ergebnis seit 1979. Verantworten muss dies vor allem die CSU, die in Bayern rund acht Punkte einbüßte. Die SPD verbesserte sich auf 27,3 Prozent (2009: 20,8). CSU-Chef Horst Seehofer sagte am Montag: „Das ist eine Wahlniederlage, für die übernehme ich auch die Verantwortung.“ Die Grünen sackten auf 10,7 Prozent (12,1). Die Linke erreichte 7,4 Prozent (7,5). Die FDP stürzte auf 3,4 Prozent (11,0) ab. Die euroskeptische AfD kam bei ihrer ersten Europawahl mit 7,0 Prozent gleich ins Parlament.
Die EU-Staats- und Regierungschefs, die den Chef der Brüsseler Kommission vorschlagen, müssen das Wahlergebnis berücksichtigen. Die Wahl im Europaparlament ist bisher Mitte Juli vorgesehen. Möglich ist weiterhin, dass am Ende ein Kompromisskandidat herauskommt. Dazu sagte Juncker in Brüssel: „Vergessen Sie das sofort.“
In Frankreich kam die rechtsextreme Partei Front National unter Marine Le Pen laut vorläufigem Ergebnis auf 26 Prozent, vor der konservativen Oppositionspartei UMP mit 20,7 Prozent und den regierenden Sozialisten von Präsident François Hollande mit nur 13,9 Prozent. Le Pen forderte angesichts des FN-Ergebnisses die Auflösung der Nationalversammlung und den Rücktritt von Premierminister Manuel Valls. Hollande beriet am Montag mit Valls und den wichtigsten Ministern in einer Krisensitzung über mögliche Konsequenzen.
In Großbritannien bezeichnete UKIP-Chef Nigel Farage den Wahlausgang als „außergewöhnlichstes Ergebnis seit 100 Jahren“. Die UKIP erzielte rund 27,5 Prozent und bekommt damit 24 der 73 der Sitze. Die Konservativen von Premierminister David Cameron kamen mit knapp 24 Prozent (19 Sitze) nur auf Platz drei hinter der oppositionellen Labour-Partei, die 25,4 Prozent und 20 Sitze holte. Auch in Skandinavien schnitten die Rechtspopulisten besser als erwartet ab.
Im Euro-Krisenland Griechenland wurden die oppositionellen radikalen Linken (Syriza) um den europaweiten Linke-Spitzenkandidaten Alexis Tsipras nach Auszählung von mehr als 99 Prozent aller Stimmen mit 26,6 Prozent stärkste Kraft. Die zusammen mit den Sozialisten regierende konservative Nea Dimokratia landete mit 22,7 Prozent auf Platz zwei. Drittstärkste Kraft ist demnach die rechtsradikale und rassistische Partei Goldene Morgenröte mit 9,4 Prozent.
In Italien bestand die Demokratische Partei (PD) von Regierungschef Matteo Renzi ihre erste Bewährungsprobe. Nach Auszählung fast aller Stimmen stand sie am Montagmorgen bei 40,81 Prozent. Dahinter folgte die populistische Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) mit rund 21,16 Prozent. Die konservative Opposition Forza Italia (FI) von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi landete mit 16,8 Prozent auf Platz drei.
In Österreich blieb die konservative ÖVP laut vorläufigem Endergebnis mit 27,3 Prozent stärkste Kraft, gefolgt von der sozialdemokratischen SPÖ (24,2). Mit 20,5 Prozent legte die rechte FPÖ um 7,8 Punkte zu. Auch die Grünen gewannen deutlich.
In den Niederlanden kann die Anti-Europa-Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders trotz Verlusten vier Abgeordnete nach Straßburg schicken. Stärkste Parteien sind die europafreundlichen Christdemokraten (5) und die linksliberale Partei D66 (4). Je drei Sitze errangen die Regierungsparteien - die rechtsliberale VVD und die sozialdemokratische Partei für die Arbeit.