Steuerhinterziehung: „Unsere Gesellschaft profitiert von diesen Skandalen“

Der Hamburger Medienforscher Steffen Burkhardt über die Auswirkungen der Steuerhinterziehung durch Prominente.

Foto: Paula Markert

Berlin. Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer hat zugegeben, über viele Jahre ein Schweizer Konto verheimlicht zu haben. Für die vergangenen zehn Jahre habe sie rund 200 000 Euro Steuern plus Säumniszinsen nachgezahlt. Der Medienwissenschaftler Professor Steffen Burkhardt analysiert, was der Skandal für Deutschland bedeutet.

Herr Burkhardt, Frau Schwarzer bekommt gerade viel Häme ab — wann reagieren Menschen auf Skandale besonders empfindlich?

Steffen Burkhardt: Menschen reagieren auf Skandale dann besonders empfindlich, wenn Moralapostel Grenzen überschritten haben. Bei Alice Schwarzer, die mit großer Präsenz für ihre moralischen Vorstellungen zu Kernfragen des gesellschaftlichen Lebens gestritten hat, trifft das zweifelsohne zu. Sie ist nicht länger Moralinstanz und jetzt Angriffen aus drei Lagern ausgesetzt. Erstens: den Menschen, die sie schon immer mundtot sehen wollten, weil sie ihre Wertvorstellungen ablehnen. Zweitens: enttäuschten Anhängern. Und drittens: denjenigen in Deutschland, die für Steuergerechtigkeit eintreten und über die Gier von ihr entsetzt sind. Diese drei Diskursfraktionen führen zu einem explosiven Gemisch an Emotionen und Meinungen, das die Skandalisierung befeuert.

Was macht das mit dem öffentlichen Diskurs im Land, wenn vermeintlich moralische Institutionen mit skandalösem Verhalten auffliegen?

Burkhardt: Großen sozialen Umbrüchen gehen Skandalwellen voraus. Ob Pädophile bei der katholischen Kirche oder den Grünen, ob Margot Käßmann, Günter Grass, Alice Schwarzer, Christian Wulff oder der ADAC: Die Skandalisierung nahezu aller moralischen Institutionen unseres Landes ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Wir haben, wie nur wenige Länder weltweit, einen Journalismus, der auf Missstände des Systempersonals hinweist. Und zweitens haben die Deutschen ein gutes Bewusstsein dafür, dass etwas in unserem Land nicht stimmt. Historisch betrachtet könnte man sagen, dass den Deutschen die Obrigkeitstreue abhandengekommen ist. Ihr Verhalten wäre vor 100 Jahren undenkbar gewesen.

Wer profitiert von solchen Skandalen?

Burkhardt: Von den Skandalen profitiert neben einzelnen Akteuren vor allem die Gesellschaft. Dank aktueller Skandale wissen wir, dass Steuerhinterziehung ein weit verbreitetes Problem ist. Wir haben auch gelernt, dass wir uns nicht blind auf den ADAC verlassen können. Über Skandale erfahren wir von Schweinereien in unseren Lebensmitteln oder von unserer Bespitzelung, gegen die unsere Regierung nicht konsequent vorgeht.

Haben wir es mit einer neuen Dimension von Verfall zu tun?

Burkhardt: Nein. Historische Analysen zeigen, dass es immer wieder Phasen gibt, in der es viele Skandale gibt. Man muss sich hier nur das Deutsche Kaiserreich mit seinen unzähligen massenmedialen Skandalen anschauen. Neu ist: Durch das Internet sind die Skandale besser dokumentiert und für alle jederzeit zugänglich.

Warum ist immer wieder nur von „Fehlern“ zur Rechtfertigung die Rede, wo eigentlich tiefere Ursachen vorliegen?

Burkhardt: Skandalisierte wie Frau Schwarzer sprechen immer nur von „Fehlern“ zur Rechtfertigung, um von tieferen Ursachen ihres Fehlverhaltens abzulenken. Das ist pure Rhetorik, die alle Krisenberater ihren Schützlingen eintrichtern. Dann wird von „ganzem Herzen bedauert“ und zehn Sendungen später hockt man wieder in Talkshows. Das wirklich Problematische an dieser Entschuldigungs-Rhetorik ist die Tatsache, dass sie den Fokus der öffentlichen Debatte auf Personen lenkt und nicht auf die gesellschaftlichen Fehler, die das Fehlverhalten ermöglichen.