Streit um Agenda 2010: Licht und Schatten am Arbeitsmarkt

Im Kampf um die Deutungshoheit der Situation am deutschen Arbeitsmarkt überziehen sich Wirtschaft und Gewerkschaften wechselseitig mit „Faktenchecks“ — der Wahlkampf lässt grüßen.

Um die Agenda 2010 wird wieder gerungen.

Um die Agenda 2010 wird wieder gerungen.

Foto: dpa

Berlin. Den Stein hatte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ins Wasser geworfen. Mit seinem Plädoyer für ein „Arbeitslosengeld Q“, also einem längeren Leistungsbezug bei gleichzeitiger Weiterbildung, sucht Schulz die bei den Genossen ungeliebte Agenda 2010 zurückzudrehen. Die Gewerkschaften applaudieren. Dagegen sieht die Wirtschaft in den einst unter Rot-Grün beschlossenen Arbeitsmarktreformen den Erfolgsschlüssel für Rekordbeschäftigung und Niedrigarbeitslosigkeit.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hatte dazu kürzlich eine Broschüre mit dem Titel „Fakten statt Zerrbilder“ veröffentlicht. Jetzt zog der DGB nach — mit einen „Faktencheck“ der Arbeitgeber-Fakten. Die noch unveröffentlichte Gegen-Broschüre liegt unserer Redaktion vor. Nachfolgend die wichtigsten Streitpunkte und Sichtweisen, von denen viele im Wahlkampf wieder auftauchen dürften:

ARBEITSLOSIGKEIT: Die BDA verweist darauf, dass es im Jahr 2005 noch 4,9 Millionen Erwerblose gab, zehn Jahr später aber weniger als 2,7 Millionen. Der DGB stellt das nicht in Frage („erfreulich“), hält aber den Blick auf die Zahl der Unterbeschäftigten im Land für „viel aussagekräftiger“. Also jene Gruppe, von denen viele in Maßnahmen stecken oder krank sind und deshalb nicht für eine Vermittlung in Frage kommen. 2016 betraf das insgesamt 3,7 Millionen Menschen. Die BDA wiederum verweist auch hier auf einen starken Rückgang — 2005 waren es noch 6,1 Millionen.

LANGZEITARBEITSLOSE: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen lag 2016 weitgehend unverändert bei rund einer Million. Es gab nur einen vergleichsweise kleinen Rückgang um 46.000 Personen. „Die Beschäftigung steigt, aber die sozialpolitischen Probleme ändern sich kaum“, klagt der DGB. Die Arbeitgeber gestehen zu, dass der Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit seit 2013 „nur noch in kleinen Schritten“ gelingt, machen aber auch eine viel freundlichere Rechnung auf: Gemessen an allen Erwerbspersonen seien in Deutschland nur zwei Prozent länger als ein Jahr ohne Job — EU- weit ist das Rang 6 von 28.

ÄLTERE ARBEITNEHMER: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen 60 und 64 Jahren hat sich laut BDA seit 2000 auf 1,9 Millionen verdreifacht. Derweil beruhe der Anstieg der Arbeitslosigkeit Älterer „ausschließlich“ auf Statistikänderungen. So würden anders als früher inzwischen auch viele Personen über 58 als arbeitslos gezählt. Der DGB hält die wachsende Zahl älterer Beschäftigten dagegen aus demografischen Gründen für „wenig überraschend“. Allein seit 2008 sei die Zahl der Menschen zwischen 55 und 64 um 1,4 Millionen gestiegen. Auch das Statistik-Argument lässt der DGB nicht gelten, weil umgekehrt auch ein Teil der älteren Arbeitslosen nicht als arbeitslos erfasst wird.

JUGENDARBEITSLOSIGKEIT: Abgesehen von den Niederlanden ist die Jugendarbeitslosigkeit in Europa nirgendwo so niedrig wie in Deutschland. Das bezweifelt auch der DGB nicht. Allerdings verweist er auf die häufig prekären Beschäftigungsverhältnisse junger Leute. Personen unter 35 seien mehr als drei Mal so oft befristet beschäftigt wie Ältere. Beklagt wird auch, dass nur noch 20,3 Prozent der Betriebe ausbilden. Dagegen verweisen die Arbeitgeber darauf, dass überhaupt nur 53 Prozent aller Betriebe ausbildungsberechtigt seien, von denen wiederum 80 Prozent konstant oder mit Unterbrechungen Lehrstellen anböten.

TEILZEITJOBS: Eine Teilzeitbeschäftigung sei „fast immer aus privaten Gründen gewollt“, sagt die BDA. Dagegen argumentiert der DGB, dass 35 Prozent der Betroffenen gern länger arbeiten würde und sich vor allem für Frauen kaum Perspektiven böten. Dem halten die Arbeitgeber entgegen, dass ein Teil der neu eingestellten Teilzeitjobber zuvor gar nicht gearbeitet hat.

FAZIT: Auch Fakten können zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen führen, je nachdem, welche dabei in den Vordergrund gerückt oder ausgeblendet werden.