„Toi, toi, toi!“ - Sängerin Ann Sophie fährt zum ESC
Hannover (dpa) - Trotz Eklats wird jetzt nach vorn geschaut: Nach der holprigen Nominierung der Sängerin Ann Sophie für den Eurovision Song Contest (ESC) drücken ihr Grand-Prix-Experten die Daumen fürs Finale.
„Ann Sophie wird mit prima Erfolgsaussichten nach Wien fahren (...)“, meinte am Freitag etwa Jan Feddersen, Autor des ESC-Buchs „Wunder gibt es immer wieder“, auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Die 24-Jährige, eine Newcomerin im Musikgeschäft, agiere auf der Bühne „viel professioneller als viele sogenannte Profis“, sagte der langjährige ESC-Kommentator Peter Urban im Radiosender NDR Info. Auch Georg Uecker, „Lindenstraße“-Schauspieler (Dr. Carsten Flöter) und ESC-Fan, machte der Hamburgerin Mut: „Toi, toi, toi Mädel!“
Ein einzigartiger Rückzieher in der Geschichte des Song Contests, der früher Grand Prix genannt wurde, hatte Ann Sophie den Weg zum Finale am 23. Mai in Wien geebnet. Im deutschen Vorentscheid („Unser Song für Österreich“) hatten die Fernsehzuschauer eigentlich den aus der Castingshow „The Voice“ bekannten Rocksänger Andreas Kümmert gewählt. Doch er lehnte am Donnerstagabend live vor 3,2 Millionen ARD-Zuschauern ab: „Ich bin nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen.“
Die Moderatorin Barbara Schöneberger erklärte kurzerhand die zweitplatzierte Ann Sophie zur deutschen ESC-Hoffnung, obwohl sie bei der Publikumswahl nach Senderangaben nur etwa ein Fünftel der Voting-Teilnehmer hinter sich hatte. Der verantwortliche Norddeutsche Rundfunk (NDR) verteidigte das Vorgehen Schönebergers als „das einzig Richtige“ und trat Äußerungen entgegen, Ann Sophie sei eine Siegerin zweiter Klasse.
Kümmert hatte im letzten Wahldurchgang des Vorentscheids einen haushohen Vorsprung. Laut NDR entschieden sich 78,7 Prozent der Anrufenden für ihn und nur 21,3 Prozent für Ann Sophie.
Der überraschende Rückzieher Kümmerts stieß viele Zuschauer vor den Kopf. In Internet-Foren gab es am Freitag enttäuschte und wütende Kommentare. Allerdings wurde dem unangepassten Rock- und Bluessänger aus Bayern auch Respekt für seine Entscheidung gezollt. „Das ist eine krasse Entscheidung“, sagte der deutsche ESC-Vertreter von 2004, Max Mutzke, der Deutschen Presse-Agentur. „Ich kann sie nachvollziehen, weil der Druck hinter den Kulissen enorm groß ist.“ Gleichzeitig sei es schwierig, weil eine Absage immer auch das Publikum enttäusche.
Ann Sophie zögerte zunächst, nahm das Ticket nach Wien dann aber an. Ihr war wie allen anderen Umstehenden auf der Bühne in Hannover die Verblüffung und Anspannung während Kümmerts Worten anzusehen.
Der Rückzug eines vom Publikum gewählten Kandidaten ist in der fast 60-jährigen Geschichte des Grand Prix einmalig. Kümmert sagte auf der Bühne, dass er „nur ein kleiner Sänger“ sei. Ende 2013 hatte der untersetzte Mann aus Unterfranken die Castingshow „The Voice of Germany“ gewonnen. Auch damals soll ihm der Trubel um seine Person mehrfach zu viel geworden sein.
„Die Lampe ist zu groß, die da angeht“, sagte Siggi Schuller von der Plattenfirma Universal in einem ARD-Video. „Er hat alles gegeben und irgendwann festgestellt, dass er es einfach nicht packt.“ Er glaube, Kümmert habe einfach spontan entschieden.
„Wir haben da mit offenem Mund gestanden“, sagte ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber, der nie mit einem solchen Rückzug gerechnet habe. Es sei Kümmerts Idee gewesen, beim ESC dabei zu sein, betonte er. In einer NDR-Mitteilung erklärte Schreiber: „Es ist wie beim Sport: Wenn ein Olympiasieger seine Goldmedaille zurückgibt, gibt es einen neuen Träger der Medaille.“
Ein Sprecher der veranstaltenden European Broadcasting Union (EBU) reagierte gelassen. „Wir haben keine Vorgaben, wie die Nationen ihre Künstler für das Finale auswählen“, sagte EBU-Sprecher Jarno Siim der Zeitung „Die Welt“ (online). „Für uns gilt derjenige als Kandidat, der im Mai zum Head of Delegations Meeting in Wien erscheint.“ Der Rückzug Kümmerts gefährde Deutschlands Teilnahme nicht, „auch wenn es meinen Informationen nach bisher einzigartig ist“.
Der deutsche ESC-Vorentscheid hat deutlich weniger Zuschauer angezogen als im Vorjahr. 3,20 Millionen Menschen schalteten ein. Im Vorjahr waren es noch 3,95 Millionen gewesen.
Ann Sophie war nach dem Sieg bei einem Clubkonzert als Quereinsteigerin zum Vorentscheid dazugestoßen, dessen übrige Kandidaten von der Musikbranche und ARD-Experten aufgestellt waren. Internationale Erfahrung bringt die Hamburgerin mit. Sie wurde in London geboren und ging mit 20 nach New York, um Schauspiel zu studieren. Dort startete sie auch ihre Musikkarriere.
Der Eurovision Song Contest wird seit 1956 ausgetragen. Deutschland hat bisher zwei Mal gewonnen, 1982 mit Nicole und 2010 mit Lena. 2014 war das Frauentrio Elaiza für Deutschland angetreten und auf dem enttäuschenden 18. Platz gelandet. In diesem Jahr geht der ESC in Wien über die Bühne, nachdem die bärtige Sängerin Conchita Wurst aus Österreich 2014 gewonnen und so den Wettbewerb in ihre Heimat geholt hatte.