Wenn Tabletten zum gefährlichen Cocktail werden
Eine Studie ergibt Sicherheitslücken bei der Arzneimitteltherapie. Denn viele Patienten nehmen mehrere Medikamente gleichzeitig.
Berlin. Medikamente sollen gesund machen. Doch wenn verschiedene Präparate gleichzeitig eingenommen werden müssen, drohen gefährliche Wechselwirkungen. Die Krankenkasse „Barmer“ schlägt jetzt in ihrem aktuellen Arzneimittelreport Alarm: Bei der Therapie mit Medikamenten gibt es große Sicherheitslücken.
Immerhin jeder fünfte Bundesbürger hat im Jahr 2016 mindestens fünf Medikamente gleichzeitig eingenommen. Und das offenbar nicht selten mit fatalen Folgen: Nach Angaben von Patientenschützern kommt es jährlich zu etwa 250 000 Klinik-Einweisungen, die auf Fehler bei der Arzneimitteltherapie zurückzuführen sind. Die Zahl der Todesfälle wird auf rund 50 000 geschätzt. Ältere Patienten sowie chronisch Kranke tragen dabei das größte Risiko. Das belegt auch der neue Arzneimittelreport der mit 9,2 Millionen Versicherten zweitgrößten Krankenkasse Barmer, welcher am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde.
Den Daten zufolge haben rund 33,1 Millionen Menschen in Deutschland drei oder mehr chronische Leiden. Fünf oder noch mehr gleichzeitig verabreichte Wirkstoffe sind da keine Seltenheit. „Das verstärkt die Behandlungskomplexität“, erläuterte Barmer-Chef Christoph Straub. Zumal in solchen Fällen oft auch mehrere behandelnde Ärzte gleichzeitig im Spiel sind.
Beispiele aus der Praxis zeigen, wie lückenhaft der Schutz vor vermeidbaren Risiken in der Arzneimitteltherapie ist. Unter anderem erhielt jeder vierte Versicherte im Alter von 65plus ein von Experten nicht für diese Altersgruppe empfohlenes Medikament. Die entsprechenden Präparate sind in der sogenannten Priscus-Liste zusammengefasst.
„Auch bei Antibiotika-Therapien kann einiges schief gehen“, sagte Straub. So werde oft das Arzneimittel Trimethoprim zur Behandlung von Harnwegsinfektionen eingesetzt. Jeder dritte Patient nehme aber gleichzeitig andere Arzneien ein, die das Risiko einer Notfallbehandlung im Krankenhaus vervielfachten, erläuterte Straub.
Als weiteres Beispiel nannte er den Arzneistoff Methotrexat, ein Mittel für die Krebs- und Rheuma-Therapie, das allein 1400 Versicherte der Kasse erhalten hätten, obwohl es wegen ihrer gleichzeitig stark eingeschränkten Nierenfunktion gar nicht hätte zum Einsatz kommen dürfen. „All das sind vermeidbare Risiken“, betonte Straub. Das Problem: Haus- und Fachärzte müssen fast 1900 Wirkstoffe im Blick behalten. So viele kamen laut der Studie im Jahr 2016 bei Patienten zum Einsatz. Und das in gut 454 000 Kombinationen von zwei Wirkstoffen. Die möglichen Risiken könne kein Arzt ohne Hilfsmittel immer korrekt einschätzen, meinte Straub. Der Autor des Reports und Chefarzt für innere Medizin in Saarbrücken, Daniel Grandt, plädierte deshalb für eine digital unterstützte Arzneimitteltherapie, wie sie die Barmer derzeit in einem gemeinsamen Pilot-Projekt mit Ärzten testet.
Und was können Patienten zur Risikovermeidung beitragen? „Sie müssen einen Medikationsplan führen“, riet Grandt. Seit rund zwei Jahren gibt es dafür einen bundeseinheitlichen Standard. Damit sollen Patienten im richtigen Umgang mit mindestens drei gleichzeitig verordneten Medikamenten unterstützt werden. Jeder Patient habe ein Recht auf risikoarme Medikationen, betonte Straub. Dabei seien nicht nur die Patienten selbst und die Ärzte gefordert, sondern auch Angehörige, Pflegekräfte und Apotheker.