Gastbeitrag Was sich aus der Corona-Krise lernen lässt
Wuppertal · Der Rektor der Bergischen Universität Wuppertal, Lambert T. Koch, sieht durch die Corona-Pandemie viele Ansätze, existierende Systeme zu überarbeiten.
Noch hat es uns fest im Griff, das Coronavirus Sars-CoV-2. Keine Frage, wir befinden uns mitten in einer schweren Krise, die inzwischen nahezu alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat. Da ist es fast schon tröstlich, dass an vielen Stellen ein ungewohnter Zusammenhalt in unserem Land zu beobachten ist. Die Opposition hält sich zurück mit Kritik. Gemeinsam mit der Regierung beschließt man Hilfspakete. Bürger helfen Bürgern. Nachbarn übernehmen Einkäufe füreinander. Junge musizieren für Alte. Indem die Gesellschaft physisch auf Distanz geht, rückt sie menschlich zusammen. Das sind Lichtblicke in schwierigen Zeiten.
Doch je länger wir in diesem Ausnahmezustand verweilen, je länger die schlimmen Bilder aus Italien, Spanien und anderen Ländern über unsere Bildschirme flimmern, desto drängender werden Fragen danach, wie es weitergehen kann und wann es endlich vorbei ist. Wann hat das Sterben ein Ende, wann die Angst, wann der wirtschaftliche Niedergang, der immer mehr Menschen und Unternehmen existenziell bedroht?
Irgendwie wünscht man sich einen, der aufsteht und verkündet: Morgen, in einer Woche oder in einem Monat wird es geschafft sein. Doch kein Politiker, kein Virologe und kein Krisenexperte vermag uns diese Erleichterung zu verschaffen. Dieses Mal ist alles anders – anders als nach einem Erdbeben, einem Sturm oder einem Tsunami. So brutal derartige Naturereignisse sein können, psychologisch betrachtet ist es in allem Unheil ein Vorteil, einen „Tag Null“ zu haben, an dem es vorbei ist und der Wiederaufbau beginnen kann. Die gegenwärtige Pandemie schenkt uns diese greifbare Aussicht bislang nicht.
Die Herausforderung für betroffene Gesellschaften und für jeden Einzelnen ist es, dass die aktuelle Krise sich nur schleichend verabschieden wird – über viele Wochen hinweg, wahrscheinlich Monate. Das macht es besonders schwer. Es wird nicht den einen richtigen Zeitpunkt geben, um alles wieder auf „normal“ zu drehen, die Einschränkungen zurück-, und unsere Alltagsaktivitäten, Produktionen und Investitionen hochzufahren. Diese Ungewissheit wird, je länger sie dauert, an den Nerven zehren, demotivierend wirken. Schon jetzt steigt der Druck auf politische Entscheidungsträger, die uns auferlegten Einschränkungen zu lockern. Doch was, wenn es schiefgeht und das Virus erneut zuschlägt?
Wie schwer die Last der Verantwortung wiegt, die unsere Politik dieser Tage zu tragen hat, lässt sich nur erahnen. Der überaus bestürzende Suizid des hessischen Finanzministers Thomas Schäfer deutet wohl daraufhin, wie diese Bürde auf ihm lastete. Möglicherweise wurden ihm die hohen Erwartungen der Bevölkerung an die politische Hilfe in dieser Notlage untragbar, wie es aus seinem Umfeld heißt. Vielen unserer derzeitigen Verantwortungsträgern macht die Situation immens zu schaffen. Sie stehen an vorderster Front und müssen handeln, ohne in vielen Fällen zu wissen, wie lange einzuleitende Maßnahmen andauern werden, ob die benötigten Mittel reichen und was danach ist, wenn es ans „Aufräumen“ geht.
Vor der Epidemie ist nach der Epidemie
Nur eines scheint klar, vor der Epidemie ist nach der Epidemie. Wie nach 9/11, als 2001, die amerikanische Nation auf brutalste Weise lernte, nicht unverwundbar zu sein, erfahren wir gerade bitterlich, dass wir mit manchen Auswüchsen unseres Systems zu sorglos umgegangen sind. Uns wird gewahr, dass die Bedrohung nun fortbesteht, auch nach Sars-CoV-2, auch wenn im Sommer Medikamente und im Winter ein Impfstoff gefunden sein sollten; wenn Börsen und die allgemeine Stimmungslage wieder im Steigen begriffen sind. Pandemien werden in unserer hochvernetzten Welt und jetzt auch in unseren Köpfen ein relevantes Risiko bleiben.
Daher lautet die entscheidende Frage, ob wir aus den Geschehnissen lernen. Fest steht, wir hätten vorbereitet sein können. Doch stattdessen bewahrheitete sich einmal mehr die alte Volksweisheit, dass das Kind erst in den Brunnen gefallen sein muss, bis gehandelt wird. Immerhin gab es im In- und Ausland ausreichend Hinweise darauf, dass eine reelle Pandemie-Gefahr latent vorhanden war. Eine Risikoanalyse der Bundesregierung aus dem Jahr 2012 belegt, dass auch unsere Behörden konkret gewarnt waren. Eine drastische Anzahl an Toten, Engpässe bei Lebensmitteln und ein völlig überlastetes Gesundheitssystem – die Simulation einer solchen Pandemie, ausgelöst durch ein fiktives Virus, wurde Anfang 2013 sogar dem Bundestag vorgelegt.
Nun haben wir den traurigen Beleg, dass derartige Risikoanalysen keineswegs das Machwerk verkopfter Unheilspropheten sind. Daher lautet die Herausforderung, nun endlich Konsequenzen zu ziehen für die Zukunft. Dabei dürfen wir das Podium nicht den Besserwissern, Rechthabern und Ideologen überlassen, die sich spätestens zu Wort melden, wenn die Lage sich entspannt. Parteiengezänk, Wahlkampf und Föderalismusstreit könnten leicht überdecken, dass wir für das Aufräumen und Korrigieren den eingangs erwähnten gesellschaftlichen Zusammenhalt weiter benötigen. Pauschale Forderungen werden nicht weiterhelfen: weder von rechts der platte Ruf nach einem wieder stärkeren Nationalstaat mit strengeren Grenzen, noch undifferenzierte Kapitalismuskritik von links, ebenso wenig der abstrakte Appell für neue Lebensstile aus der alternativen Szene.
Wir benötigen eine Allianz der Vernünftigen
Keine Ideologie hätte die unheilvolle Dynamik der Pandemie aufhalten können. Was wir jetzt benötigen, ist eine Allianz der Vernünftigen, um neuem Unheil vorzubauen. Sie muss die konstruktiven Argumente aller Seiten einbeziehen; ebenso die Tatsache, dass es einer vieldimensionalen Lösung bedarf, damit nicht gute Ansätze an einer Stelle von Missständen anderswo konterkariert werden.
Ganz oben auf der Prioritätenliste sollte eine Stärkung gesundheitspolitischer Kompetenz stehen, die sich nicht in allem dem Kommerz unterwirft. Es darf nicht sein, dass zahlreiche lebenswichtige Medikamente kaum mehr in Europa, sondern hauptsächlich in Asien produziert werden. Was, wenn dann in der Krise der Arzneimittel-Export gestoppt wird, wie jüngst in Indien geschehen? Wie kann es sein, dass schon nach so kurzer Zeit einfachste Ausrüstung, wie Schutzmasken, Handschuhe und Desinfektionsmittel, knapp werden und erst „Freiwillige“ für eine Nachproduktion gesucht werden müssen? Bedarf es hier nicht tatsächlich stärkerer nationaler Instanzen, die auch mit dem nötigen Etat und vor allem entsprechenden Befugnissen ausgestattet sind? Das Robert-Koch-Institut als sicherlich kluger Ratgeber hat sich gleichwohl als nicht schlagfähig genug erwiesen und die EU-Seuchenbehörde ist ein zahnloser Tiger. Eine wirkungsvolle deutsche Seuchenbehörde müsste auch in sorgenfreien Zeiten vorbauen können: in Richtung einer autonomen Versorgung mit lebenswichtigen Arzneimitteln, beim Management von Krankenhauskapazitäten für den Notfall und bei einer Stärkung des Bereichs Pflegepersonal. Im Krisenfall müsste dieser zentralen Einrichtung dann so viel Macht übertragen werden, dass sie – entgegen der bei uns beobachteten unheilvollen Zögerlichkeit – ein „social oder smart distancing“ bis hin zum weitgehenden Lockdown auch kurzfristig anordnen kann. Das leidige Gezerre zwischen den einzelnen Bundesländern hat hier einmal mehr belegt, dass ein allzu ausgeprägter Föderalismus nicht nur überfällige Entwicklungen im Bildungsbereich verhindert. Eine starke Seuchenbehörde müsste außerdem bei Bedarf von heute auf morgen die Schließung der Grenzen durchsetzen können, bevor es zum massenhaften Import eines Erregers durch infizierte Personen kommt.
Lernen müssen wir auch mit Blick auf den Einsatz digitaler Optionen. Sie sind lebensrettend mit Blick auf die Koordination im Gesundheitswesen. Sie können helfen, Lagebilder zu übermitteln, Risiken zu reduzieren und den Alltag nicht völlig zum Stillstand kommen zu lassen. Südkorea scheint hier Vieles richtig gemacht zu haben. Auch in unserem Bildungssystem zeigt sich dieser Tage, wie der Einbezug digitaler Lern- und Prüfungsformen uns trotz des „social distancing“ unserer Verantwortung nachkommen lässt. Schade nur, dass in der Vergangenheit viele die Aufrufe zu einer konsequenteren Digitalisierung eher als lästig denn als wichtig erachtet haben. Und schade, dass wir Sinn und Unsinn des Datenschutzes in Deutschland bislang nicht konsequenter unterschieden haben.
Was die globale Wirtschaft anbetrifft, so sind es nicht nur die erwähnten Liefer- und Versorgungsketten in sensiblen Bereichen der Daseinsvorsorge, die es neu zu justieren gilt. Auch die Frage danach, ob nicht eine grenzenlose Profitgier an den Kapitalmärkten Werte zerstört, die erhaltenswert wären, ist berechtigt. Darf es etwa weiterhin sein, dass computergesteuerter Handel über ungebremste Kursausschläge unserer Realwirtschaft in Sekunden schwersten Schaden zufügt? Ist es hinnehmbar, dass dabei sogenannte Shortseller die Zerstörung ganzer Existenzen noch beschleunigen? Vieles spricht dafür, dass mindestens in Krisenzeiten hochspekulative Leerverkäufe international verboten werden müssten. Darüber hinaus wäre es an der Zeit, endlich die Finanzmärkte durch ein smartes Transaktionssteuersystem vor Übertreibungen zu schützen – durch ein System, das anders als das derzeit geplante den Hochfrequenz- und Derivatehandel ins Visier nimmt.
Auch mit Blick auf den sozialen Bereich sollten die Erfahrungen der Krise genau hinterfragt und genutzt werden. Was hat die erzwungene Entschleunigung mit uns allen gemacht? Wem hat sie geschadet, wem genutzt? Was können wir in solchen Zeiten mit uns anfangen? Wie produktiv sind wir? Wie tragfähig unsere persönlichen Beziehungsgeflechte? Wie gut funktioniert die Kommunikation untereinander? Welche Rolle spielen die Medien? Verkaufen sie nur marktschreierisch das Schlimme, wie man es dieser Tage auf einigen Online-Kanälen erlebt? Oder pflegen sie auch eine konstruktive Nachdenklichkeit, bringen sie tröstliche Geschichten? Schaffen sie es, das Gute in den Menschen anzustoßen und zu motivieren?
Manches ließe sich noch anfügen. Was wir jedenfalls feststellen, ist, dass dieser Tage die gesamte Gesellschaft ungewollt auf den Prüfstand geraten ist. Es wird darauf ankommen, wie gut wir bestehen, verstehen und für die Zukunft daraus lernen.