Zehntausendfacher Verdacht auf Behandlungsfehler
Berlin (dpa) - Mehr als 26 000 Patienten haben im vergangenen Jahr wegen des Verdachts auf Behandlungsfehler Hilfe bei Gutachtern gesucht. Das sind deutlich mehr als im Vorjahr - die Patienten werden offensichtlich kritischer.
In rund jedem vierten Fall wurde ein Fehler bestätigt.
Trotz Verbesserungen sind die Risiken für die Patienten aus Sicht der Krankenkassen nach wie vor viel zu hoch. „Viele Behandlungsfehler wären vermeidbar“, sagte der leitende Arzt des Medizinischen Dienstes des Kassen-Spitzenverbands (MDS), Stefan Gronemeyer, bei der Präsentation der neuen MDS-Fehlerstatistik am Dienstag in Berlin.
Allein die Prüfer im Kassen-Auftrag schrieben 2013 rund 14 600 Gutachten wegen Verdachts auf Fehler. Das sind gut 2000 mehr als im Vorjahr. Knapp 3700 Mal bestätigten die Gutachter des Medizinischen Diensts den Fehlerverdacht und erleichterten es den Betroffenen damit, Schadenersatz zu bekommen. Im Vorjahr waren es noch rund 3900 bestätigte Fehler.
Bei den Gutachterstellen der Ärzteschaft gingen nach dpa-Informationen 2013 zudem rund 12 000 Anträge auf Gutachten ein. Auch hier wurde in rund jedem vierten der untersuchten Fälle ein Fehler festgestellt. Diese Zahlen sind noch nicht veröffentlicht. Wie viele Patienten sich direkt an Gerichte wenden, ist unbekannt. Die Dunkelziffer ist laut MDS zudem hoch.
„Den Anstieg bei den Vorwürfen führen wir auf die Aufklärungsarbeit der vergangenen Jahre und die gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit, aber auch auf das 2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz zurück“, sagte Gronemeyer. Patienten hätten seither mehr Anspruch auf Hilfe durch die Kassen. Rund sieben von zehn Vorwürfen richten sich gegen Krankenhäuser, ein Drittel gegen niedergelassene Ärzte.
„Die meisten Vorwürfe beziehen sich auf operative Eingriffe“, sagte die leitende Ärztin beim Medizinischen Dienst Bayern, Astrid Zobel. Vor allem nach dem Einsatz von Knie- oder Hüftgelenksprothesen haben viele den Eindruck, dass etwas schief gelaufen ist. Zuletzt ließen mehr als 1000 ihre OP in dem Bereich überprüfen. Doch auch Fälle in der Zahnmedizin, der inneren Medizin, der Geburtshilfe und der Pflege beschäftigen die Gutachter. Bei der Quote der Bestätigungen liegt mit mehr als der Hälfte der Fälle die Pflege vorn.
Gronemeyer begrüßte neue Vorgaben für Fehlermeldesystemen in Kliniken und Praxen. „Derzeit ist festzustellen, dass Maßnahmen zur Vermeidung von Behandlungsfehlern nicht ausreichend umgesetzt sind“, kritisierte er aber. Eine stärkere Sicherheitskultur gebe es nur in Ansätzen.
Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery entgegnete, es werde alles zur Fehlervermeidung getan. „Angesichts von fast 700 Millionen Behandlungsfällen im ambulanten Bereich und mehr als 18 Millionen Fällen in den Kliniken jährlich bewegt sich die Zahl der festgestellten ärztlichen Behandlungsfehler im Promillebereich.“ Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, betonte, alle Kliniken hätten Strategien zur Fehlervermeidung.
AOK-Vorstand Uwe Deh sagte der dpa, zwar habe es in den vergangenen Jahren deutliche Verbesserungen gegeben. „Die Mauer des Schweigens ist niedriger geworden.“ Allerdings: „Alle wissen, dass der Kliniksektor zu wenig am Bedarf und am Effekt für die Patienten orientiert ist.“ Es werde nicht nur aus medizinischen Gründen operiert. Reformen seien dringend nötig.
Ab 26. Mai will eine Kommission aus Vertretern von Bund, Ländern und Koalitionsfraktionen eine Klinikreform aushandeln, die auf mehr Qualität abzielt. Ziele sind, Klinikabteilungen mit geringen Behandlungserfolgen schließen zu können und Kliniken stärker nach Qualität zu bezahlen. „Die Qualität muss für Patienten transparent und besser messbar sein“, so der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn.
Der Linke-Gesundheitsexperte Harald Weinberg machte auf ruinöse Wettbewerbsbedingungen für die Kliniken als Ursache der Fehler aufmerksam. Seine Grünen-Kollegin Maria Klein-Schmeink forderte einen weiteren Ausbau der Patientenrechte. Nötig sei ein Haftungsfonds für schwere Fälle mit unklarer Verursachungslage. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hält hierzu 200 Millionen Euro für nötig.