Interview: Bundeswehrsoldat Lindemann - „Der Taliban-Kämpfer wartet ab“

Marc Lindemann war zwei Mal als Bundeswehrsoldat in Afghanistan. Militärisch seien die Islamisten nicht zu besiegen, sagt er.

Düsseldorf. WZ: Herr Lindemann, Sie sind der dritte Bundeswehrangehörige, der ein Buch über seinen Afghanistan-Einsatz geschrieben hat. Können sich Soldaten nur so Gehör verschaffen?

Lindemann: Man kann sich anders Gehör verschaffen, es erfordert aber Durchsetzungsvermögen und Beharrlichkeit. Das geht dann den Dienstweg hoch. Es ist aber schwer, eine umfassende Kritik zu äußern, die nicht auf die Truppe abzielt, sondern auf die politische Führung. Und natürlich soll die Öffentlichkeit wissen, was dort los ist. Die nimmt den Einsatz kaum zur Kenntnis.

WZ: Weil die Bundesregierung die Mission immer noch verharmlost?

Lindemann: Natürlich hat die Politik nie offen die Wahrheit ausgesprochen und tut es bis jetzt immer noch nicht.

WZ: Woran liegt das?

Lindemann: Sie hat Angst, dass das, was dort gesagt wird, unangenehm klingt. Und dass das zu einem Abfallen in der Wählergunst führt. Auf der anderen Seite hat aber auch die Bevölkerung wenig Lust, sich solche unangenehmen Wahrheiten sagen zu lassen.

WZ: Warum sind wir in Afghanistan?

Lindemann: Um unsere Sicherheit zu verteidigen. Die Gründe für den Einmarsch 2001 waren nicht die Unterdrückung der afghanischen Bevölkerung, das Morden und Brandschatzen des Regimes. Dann hätten wir auch zwei Jahre vorher hingehen können. Schuld war der Terror des 11. September. Wir sind mit den Amerikanern auf Terroristenjagd gegangen. Die Gründe sind weiter existent.

WZ: Ist die Bundeswehr nicht blauäugig in den Einsatz gegangen?

Lindemann: Viel zu blauäugig. Wir haben jede militärische Grundregel verletzt. Wir sind zum Beispiel immer mit einem Minimalansatz an Truppen runtergegangen, immer mit dem schwächsten Gerät, weil wir zivil auftreten wollten. Wir saßen auf ungeschützten Fahrzeugen, haben gewunken und Teddys verteilt.

WZ: Was wäre sinnvoll gewesen?

Lindemann: Wenn Militär in gebotener Stärke dagewesen wäre, hätte man jederzeit auf eine Änderung der Lage reagieren können. So sind wir militärisch immer nur hinterhergelaufen.

WZ: Gilt das heute auch noch?

Lindemann: Ja. Die Lage ist aus dem Ruder gelaufen, und wir schicken wieder nur 500 Mann hin, ein Kompromiss. Ausschlaggebend sollte der militärische Sachverstand sein und nicht parteipolitische Entscheidungen.

WZ: Was war der schlimmste Fehler?

Lindemann: Wir haben die Zeit der Ruhe nicht genutzt. Das gilt vor allem für die zivilen Hilfsorganisationen und das Innenministerium, das mit der Bundespolizei die afghanische Polizei ausbildet.

WZ: Polizisten klagen, dass viele afghanische Rekruten ungeeignet sind.

Lindemann: Das will zwar offiziell keiner sagen, aber die kommen mit Drogen zugedröhnt zum Dienst - wenn sie kommen. Die Hälfte beendet nicht einmal einen Sechs-Wochen-Kurs. Viele müssen sich in ihre Jobs überhaupt erst einkaufen.

WZ: Aber genau auf deren Ausbildung setzt Außenminister Westerwelle.

Lindemann: Der Ansatz ist richtig und uralt. Warum macht man das nicht schon seit acht Jahren? Dann wären wir doch nach seiner Rechnung schon draußen.

WZ: Die USA haben in Helmand eine andere Richtung eingeschlagen.

Lindemann: Wenn ich Verhandlungen will, den zivilen Wiederaufbau massiv vorantreiben möchte, muss ich mich zuerst in eine starke Position bringen.

WZ: Über der Taliban-Hochburg Mardscha weht seit gestern die afghanische Flagge. Aber kommen die Taliban nicht zurück, wenn die Isaf abrückt?

Lindemann: 1000 Taliban stellen sich erstmal nicht 15000 Soldaten in den Weg, wie im Fall der aktuellen Offensive. Der Taliban legt seine Waffe unter ein Bett, geht vor die Tür und schaut sich die Offensive an. Deswegen sind so Erfolgsmeldungen wie "Wir stoßen auf wenig Widerstand" mit Vorsicht zu genießen. Der Taliban wartet ab. Das ist seine Art der Kriegsführung. Er bestimmt stets Ort und Zeit des Kampfes, niemals wir. Militärisch ist er nicht zu besiegen.

WZ: Das sind schlechte Aussichten.

Lindemann: Man muss es dennoch versuchen. Und wenn man den Menschen zeigt, dass es sich lohnt, mit dem Westen zusammenzuarbeiten, wenn Straßen gebaut werden, wirtschaftliche Perspektiven geschaffen werden, dann hat man eine Chance. Ansonsten müssen die Taliban nur abwarten und die Taktik fahren, die Nato in Sicherheit zu wiegen.

WZ: Das heißt, sich für Reintegrationsprogramme zu melden?

Lindemann: Die Grunderkenntnis ist nicht falsch, dass sich auch unter den Taliban viele Mitläufer bewegen. Und es ist eine gute Nachricht, dass ich nicht nur Ultras vor mir habe, die alle ins Paradies eintreten wollen.

WZ: Wir kaufen den einfachen Bauern.

Lindemann: Wenn ich jemanden kaufen kann, muss ich ihn nicht bekämpfen. Doch derzeit fehlt es den Taliban nicht an Geld. Unklar ist auch, wie das Aussteigerprogramm praktisch umgesetzt wird. Macht das die Bundeswehr? Die afghanische Armee? Gibt es eine Meldestelle für reuige Taliban? Ein ähnliches Programm gab es 2005. Damals scheiterte es nicht zuletzt an der Entwaffnung.

WZ: Scheitern wir in Afghanistan?

Lindemann: Wir müssen weg von der Idee, das Land zu demokratisieren. Wir müssen uns Minimalziele setzen und die Warlords (Kriegsherren) mit ins Boot holen. Und wir müssen regional denken. Die Zentralregierung in Kabul hat keine Macht.