Interview mit General a.D. Erich Vad „Wir wissen nicht, wofür die Bundeswehr da ist“

Düsseldorf · Brigadegeneral a.D. Erich Vad spricht im Interview über die Defizite der Truppe, den Mangel an politischer Führung und die Notwendigkeit, mehr Geld fürs Militär auszugeben.

„Die Deutschen von heute stehen gern auf einem sicheren, moralischen Feldherrnhügel“, sagt Erich Vad.

Foto: Michaelis, Judith (JM)

Herr Vad, die Attraktivität der Bundeswehr leidet seit Jahren. Was ist da los?

Erich Vad: Mein Jüngster ist der einzige aus der Oberstufe seines Gymnasiums in Bayern, der als Freiwilliger zur Bundeswehr geht. Bei mir war das damals genauso. Dazwischen liegen rund 45 Jahre. Und damals hatten wir noch eine Wehrpflicht. Zudem muss sich der, der zur Bundeswehr ging und geht, stets rechtfertigen. Sich herumdrücken oder einfach Chillen in Australien, das ist der Renner und gilt als normal. Damit ist das Grundproblem beschrieben, das in die Bundeswehr reinreicht. Wir haben dort etwa 20 000 offene Stellen, trotz aller Attraktivitätsprogramme. Die greifen einfach nicht, weil die Grundstimmung im Lande zur Wehrbereitschaft so ist, wie sie ist. Ich halte von der Idee der Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht viel. Aber der Gedanke von Annegret Kramp-Karrenbauer einer allgemeinen Dienstpflicht, den finde ich zeitgemäß. Es wäre eine Wahlmöglichkeit für junge Staatsbürger zwischen dringenden sozialen Aufgaben wie der Integration von Flüchtlingen oder dem Dienst in der Bundeswehr.

War der überstürzte Ausstieg aus der Wehrpflicht ein Fehler?

Vad: Ja, sicherlich. Man hatte keine Konzepte damals mit Blick auf Attraktivitätsmaßnahmen und die Personalgewinnung. Aber die Wehrpflicht war auch massiv unter Druck und faktisch tot: Die Wehrgerechtigkeit stimmte längst nicht mehr, zu viele wurden gar nicht eingezogen, die Frauen waren ein Thema, es gibt zudem die europäische Konvention gegen Zwangsdienste und nicht wenige Bildungs- und Arbeitspolitiker waren auch gegen die Wehrpflicht. Am Ende wäre es besser gewesen, man hätte die Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht von einem Jahr für das Land überführt.

Niemand will doch einen Arbeitgeber, der als unattraktiv gilt. Die Gewehre schießen nicht, die Panzer fahren nicht, das Erscheinungsbild ist insgesamt schlecht.

Vad: Ja, das stimmt. Aber man darf auch nicht verkennen, dass die laufenden Auslandseinsätze der Bundeswehr gut laufen und die Bundeswehr international ein hohes Ansehen hat. Was im Irak geleistet wird im Rahmen des Anti-IS-Einsatzes, aber auch in Afghanistan oder Mali, das ist nicht so sehr im medialen Fokus. Die Bundeswehr schützt dort hilflose Menschen und trägt zum Frieden bei. Im Fokus ist die Bundeswehr nur, wenn dort etwas passiert. Was die SoldatenInnen dort leisten, wird nicht deutlich genug hervorgehoben.

Wir geben 45 Milliarden Euro pro Jahr für die Bundeswehr aus. Wieso sind wir nicht einsatzbereit?

Vad: Die Bundeswehr wurde über Jahrzehnte regelrecht kaputt gespart. Jede Reform der Vergangenheit sollte die Bundeswehr nicht besser machen. Sie hatte nur den Zweck, die Truppe kleiner und billiger zu machen. Am Ende hatte die Bundeswehr weniger Kampfpanzer als die Schweiz und weniger Schiffe als die Niederlande. Heute geht es nicht um Aufrüstung, sondern um Sanierung und Wiederherstellen der Einsatzbereitschaft. Es gibt sicherlich auch viel Missmanagement, Dysfunktionalität und fehlende klare Verantwortlichkeiten in der Bundeswehr. Das ist weitgehend erkannt. Und wenn das Heer von heute noch maximal eine einsatzbereite Brigade auf die Beine stellen kann, unsere Luftwaffe nur rund ein Drittel ihrer Kampfflugzeuge startklar hat und die deutsche Marine die kleinste ihrer Geschichte ist, dann läuft sicherlich etwas falsch. Der Verfassungsauftrag der Bundeswehr ist so nicht leistbar.

Wie erklärt sich das offensichtliche Missmanagement und die schwerfällige Bürokratie der Bundeswehr?

Vad: Es gibt gerade in der Ministerialbürokratie und den höheren Kommandoebenen zu viele Entscheider und zu wenige wirklich Verantwortliche. Ich habe das in meiner Zeit im Kanzleramt auch so erlebt: Das Verteidigungsministerium ist im Gegensatz zu den anderen Ressorts sehr speziell und schwerfällig. Die Dinge laufen nicht so flüssig wie in anderen Ressorts. Natürlich hat ein Verteidigungsminister unterhalb seines Ministeriums noch zahlreiche Kommandos und rund 250 000 Soldaten und zivile Mitarbeiter. Das ist in den anderen Ressorts nicht so. Auch die nicht wenigen „kleinen Napoleons“ und die vielen Partikularinteressen in der militärischen Hierarchie machen es zuweilen kompliziert. Dann ist die Regulierungsdichte in der Bundeswehr dramatisch hoch. Es gibt zig zehntausende Vorschriften und Erlasse. Wer handelt, verstößt eigentlich immer gegen irgendeine Regel. Das minimiert Initiative, fördert Untätigkeit und ein weit verbreitetes Absicherungsdenken, vor allem bei den höheren Dienstgraden. Und dann die Bürokratie: Allein die Ausführungsbestimmungen der EU-Arbeitszeitrichtlinie, deren unkritische Einführung das Personalproblem der Bundeswehr noch verstärkt, umfasst mehr als 700 Seiten. Keiner blickt da vollkommen durch.

Muss die Bundeswehr entbürokratisiert und entfesselt werden?

Vad: Da ist man dran, das ist erkannt. Aber ich weiß nicht, ob das erfolgreich ist. Die Bundeswehr ist schließlich ein Spiegelbild der Gesellschaft und auch außerhalb der Bundeswehr gibt es verkrustete, bürokratische Strukturen, wie wir wissen. Und das ist gerade in Zeiten disruptiver Veränderungen ein Problem. In der Bundeswehr gibt es bekanntlich Pannen bei der Rüstungsbeschaffung, also spielen jetzt die Juristen eine starke Rolle. Bis man da grünes Licht zum Beispiel für neue Ausrüstung und Geräte erhält, dauert es ewig. Und die Soldaten im Einsatz fragen sich: Was ist da los? Wir haben dies festgestellt und brauchen dafür jenes. Dann kommt monatelang nichts – und am Ende etwas Anderes als von denen vor Ort erwartet. Die Beschaffung neuer Ausrüstung ist wirklich ein kritisches Thema, um das sich die neue Verteidigungsministerin kümmern muss.

Was ist noch zu tun?

Vad: Wir müssten zudem 20 Prozent des Etats investiv für neue Rüstungsgüter nutzen. Das haben wir – wie das bekannte Zwei-Prozent-Ziel des BIP für Verteidigungsausgaben – der Nato zugesagt. Wir liegen aber bei etwa zwölf Prozent mit sinkender Tendenz, weit unter dem Schnitt der Briten und Franzosen. Dann ist der Zustand der Bundeswehr nicht nur eine Finanzfrage. Wir haben keine echte sicherheitspolitische Strategie in Deutschland und keine strategische Kultur wie bei unseren Partnern im Bündnis. Im Grunde genommen wissen wir gar nicht, wofür die Bundeswehr da ist, warum und wozu wir Streitkräfte abseits humanitärer Aufgaben wirklich brauchen. Es gibt Konzeptionslosigkeit ganz oben. Wundert es dann nicht, dass sich dies bis ganz unten fortsetzt? Und wir haben militärisch nicht viel zu bieten. Und davor haben andere Angst. Wir müssen einfach mehr dafür tun, die Welt zu erhalten, wie sie für uns auch optimal ist. Wir sind eine Welthandelsmacht, dazu gehören stabile internationale Beziehungen. Und dazu gehört auch eine schlagkräftige, funktionsfähige Armee.

Was machen andere Nationen besser als wir in Deutschland?

Vad: Die Briten und Franzosen tun sich auch schwer und haben ähnliche Probleme. Die Amerikaner haben ein Volumen von mehr als 700 Milliarden US-Dollar, aber Kriege haben sie in den letzten Jahrzehnten damit auch nicht mehr gewinnen können, etwa in Afghanistan oder im Irak. Sie können mit ihren maritimen Fähigkeiten sicherlich überall international Druck aufbauen und sind dabei sicherlich unverzichtbar für die Sicherstellung westlicher Interessen. Aber Militärmächten sind heute Grenzen gesetzt, nicht nur wegen der Nuklearwaffen, die große Kriege verhindern. Der wachsende Einfluss Chinas in Afrika oder Südamerika während der letzten Jahrzehnte zum Beispiel erfolgt allein mit wirtschaftlichen und finanzpolitischen Mitteln. Ich frage mich: Was hat eigentlich der Westen in dieser Zeit gemacht? Wir haben im Mittleren Osten Kriege mit tausenden von Toten geführt, aber was ist die politische Rendite? Wir haben den Mittleren Osten nicht befriedet, sondern haben es eigentlich schlimmer gemacht, einschließlich der ganzen Flüchtlingswelle. Die Nato vereinigt 70 bis 80 Prozent der gesamten Verteidigungsausgaben weltweit, aber haben wir dadurch tatsächlich mehr Sicherheit unter den Vorzeichen von Cyber-Angriffen, Terrorismus, hybriden Konfliktformen und Handelskonflikten?

Ist die Welt also insgesamt schlecht aufgestellt und aus dem militärischen Gleichgewicht?

Vad: Sicherheit hat sich schlicht verändert. In der Landes- und Bündnisverteidigung müssen wir natürlich unsere Grenzen schützen können, das ist Mindestanspruch. Das neue Sicherheitsverständnis im digitalen Zeitalter muss ganzheitlich sein. Cyberangriffe und Terroroperationen sind überterritorial und transnational. Wenn ein anderes Land „grüne Männchen“ entsendet, die mit Geheimdiensten kooperieren, Minderheiten aufwiegeln und einen Regimewechsel vornehmen, dann halten wir ein solches Vorgehen klassisch und allein mit Panzern nicht auf. Verteidigung von heute beginnt beim Bürger im „Mindset“, aber hat auch viel mit Sicherheit im digitalen Bereich zu tun. Das macht es wirklich schwierig. Unsere militärischen Planer in der Nato richten sich jetzt wieder auf Russland, auf Bündnisverteidigung der Grenzen, aus. Viele sind insgeheim froh, dass das so ist - weil es früher auch so war. Das gibt eine Sicherheit, die trügerisch ist.

Die militärische Digitalisierung ist umfangreich. Kommen wir hinterher?

Vad: Die großen Internetgiganten sind alle amerikanisch, da hinken wir Europäer Jahrzehnte hinterher. Das macht die weltweite Machtstellung der USA aus, die ernsthaft nur von China herausgefordert wird. Im digitalen Bereich kommen wir ohne Amerika nicht mehr aus. Europa und Deutschland als Wirtschafts- und Finanzmacht haben auf diesem Sektor über Jahre den Anschluss verpasst. Das gilt auch für den Weltraum. Die Franzosen wollen eine „space force“ aufstellen, die Amerikaner sind bereits dabei. Wenn sie oben die Satelliten ausschalten, dann läuft kommunikativ nicht mehr viel auf der Erde. Und es gibt neue Anti-Satellitenwaffen, Lasersysteme oder hypersonische Waffen, die nuklear wie konventionell mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit eingesetzt werden können. Da muss man am Drücker bleiben. Das tun im Westen nur die USA ernsthaft.

Ohne die USA geht es nicht?

Vad: Die Vereinigten Staaten bleiben auf absehbare Zeit unverzichtbar für unsere Sicherheit in und an den Grenzen Europas. Von einer eigenständigen Verteidigung Europas sind wir weiter denn je entfernt. Geopolitisch hat Europa nur die Wahl zwischen dem transatlantischen Bündnis mit den USA und einem sehr riskanten Dasein als Appendix eines zunehmend von China dominierten Eurasiens. Ebenso wenig können die Europäer allein, also ohne die USA, Russland strategisch ausbalancieren und am allerwenigsten China. Selbst mit dem zuweilen problematischen Bündnispartner Türkei werden die Europäer nicht ohne die USA fertig.

Ist es nicht fahrlässig für eine Exportnation wie Deutschland, wenn man nicht helfen kann, Handelswege zu schützen?

Vad: Aktuell erlebt man die begrenzten sicherheitspolitischen Fähigkeiten der Europäer in der Straße von Hormus. Ohne die USA und ihre 5. Flotte läuft gar nichts und wird auch nichts laufen. Wenn die Meerengen nicht mehr sicher sind, der Welthandel nicht mehr reibungslos funktioniert und wir das am Bruttoinlandsprodukt merken, erst dann weiß man, leider zu spät: Es liegt daran, dass wir die schwächste Marine aller Zeiten haben. Man verlässt sich auf die weltweite maritime Präsenz der Amerikaner. Die Straße von Malakka, der Bap-el-Mandeb oder die Straße von Hormus oder die maritime Präsenz im südchinesischen Meer überlässt man weitestgehend einfach den USA nach dem Motto: Das machen die schon für uns. Aber wenn das berechtigterweise nicht mehr akzeptiert wird von den USA, muss man doch zumindest Beiträge stellen.

Ist es politisch klug, Sicherheit und Verteidigung Europas ohne die USA organisieren zu wollen und unter diesen Umständen das ehemals gute Verhältnis zu den USA aufs Spiel zu setzen?

Vad: Es wäre sicherlich gut, wenn Europa ein eigenständiger sicherheitspolitischer Akteur wäre, mit starken Streitkräften, geopolitisch verortet zwischen den Großmächten China und USA. Das macht grundsätzlich Sinn. Aber wir sind in der Praxis davon so weit entfernt und so stark von den USA abhängig, dass wir das politisch gar nicht umsetzen können. Deswegen muss man aufhören, dem Bürger etwas von eigenständiger europäischer Verteidigung oder gar einer europäischen Armee als Alternative zur Nato zu erzählen. Wir haben schon angesichts der von der Nato geforderten zwei Prozent der Verteidigungsausgaben vom Bruttoinlandsprodukt in Deutschland und im Bündnis politisch einen Riesenstress. Was bedeutete das, wenn wir die Verteidigung und Sicherheit Europas ohne die USA organisieren wollten? Mit Sicherheit: vier, sechs, acht Prozent! Das ist doch politisch nicht im Ansatz mehrheitsfähig. Dazu kommt, dass die baltischen Staaten, Polen, Ungarn oder Rumänien das ohnehin nie mitmachen würden. Die sind in der Nato vorwiegend wegen der USA und nicht wegen ihrer europäischen Nachbarn. Und ich kann das gut verstehen, dass die Polen an ihrer Ostgrenze lieber US-Brigaden wollen als EU-Battle-Groups. Zudem haben die Europäer einfach ganz unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen. Die Polen, die Balten, Ungarn und Rumänien gucken nur nach Osten, Griechenland, Spanien, Italien oder Portugal sehen eher den Mittelmeerraum, Nordafrika und den Nahen – und Mittleren Osten in ihrem Fokus.

Ist Russland eine ernsthafte Gefahr für Europa?

Vad: Russland hält sich militärische Optionen – auch gegenüber Europa - offen, auch, weil es Russland international Geltung verschafft. Russland ist ja eigentlich ein Habenichts in ökonomischer oder demographischer Hinsicht. Russland hat aber durch sein gut funktionierendes Militär eine sicherheitspolitische Weltgeltung. Darum geht es Putin seit der Zeit, als der damalige US-Präsident Obama Russland geringschätzig als zu vernachlässigende „Regionalmacht“ bezeichnete. Zur Krim : dafür fangen wir sicherlich keinen 3. Weltkrieg an. Die moralischen Kriterien des deutschen Inlands sind da nicht alles, trotz des völkerrechtlich bedenklichen Vorgehens der Russen. Ich bin kein Russland-Versteher. Aber für Putin ist und bleibt die Krim strategisch so wichtig, dass er einfach nicht anders konnte und kann. Das anzuerkennen ist einfach Realpolitik. Auch Hongkong werden die Chinesen nicht einfach „laufen lassen“, trotz unserer berechtigten Kritik. Wir sollten uns besser sicherheitspolitisch auf das konzentrieren, was wir aktiv gestalten können. Da gibt es Aktionsfelder genug.

Was muss Deutschland tun?

Vad: Anstatt der „Mehr-Verantwortungs“-Rhetorik brauchen wir eine grundsätzliche Diskussion in Deutschland, was wir sicherheitspolitisch tun wollen und was nicht. Es gibt dazu derzeit keinen Konsens. Zur Straße von Hormus: Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat mal gesagt, unsere Marine muss in der Lage sein, die internationalen Seewege zu schützen. Da gab es ein Riesentheater, aber wir haben das Thema nicht ernsthaft behandelt und jetzt liegt es wieder auf dem Tisch. Es muss als Welthandelsmacht selbstverständlich sein, dass wir unsere Marine zur Sicherung internationaler Handelswege einsetzen. Wir müssen diese und die anderen Aufgaben der Bundeswehr in einer nationalen Sicherheitsstrategie und einem Bundeswehraufgabengesetz festschreiben. Nur so kann eine deutsche Regierung in einer konkreten Handlungssituation auch handeln. Wir können doch nicht bei jedem absehbaren Auslandseinsatz wieder bei Null anfangen und eine Grundsatzdebatte führen. Damit drehen wir uns ständig im Kreis.

Wie steht es mit der sicherheitspolitischen Reputation und Zuverlässigkeit Deutschlands in der Welt?

Vad: Es stellt sich erneut die neue deutsche Frage nach der Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit Deutschlands in Handlungssituationen wie jetzt ganz konkret in der Straße von Hormus. Da wird ein britisches Schiff gekapert und wir machen nichts. Außer der üblichen Rhetorik. Das Bild, das dadurch im Ausland entsteht: Ihr seid nie im Spielfeld, wenn es um die „facts and figures“ geht, ihr seid immer am Spielfeldrand. Ihr beobachtet und beurteilt dann die Spieler unter den üblichen, typisch deutschen, moralischen Kategorien.

Was folgt daraus?

Vad: Das neue Bild des unsympathischen Deutschen hat nichts mehr mit Pickelhauben und Wehrmachtsuniformen zu tun, sondern damit, dass die Deutschen von heute gern auf einem sicheren, moralischen Feldherrnhügel stehen, um den scheinbar Unparteiischen zu spielen. Das jüngste Beispiel hat unser Bundespräsident gegenüber Italien geliefert, ein Land, das wir jahrelang in seiner Flüchtlingskrise haben im Regen stehen lassen. Und das wir an den Pranger stellen wegen des umstrittenen Vorgehens einer deutschen Kapitänin. Das schafft neue Ängste vor Deutschland und wirft die alte deutsche Frage im neuen Gewand auf. Wir müssen internationale Entwicklungen aktiv mitgestalten, nicht nur kommentieren und überheblich moralisieren!

Ist das Deutschlands Rolle, eine pazifistische Mittelmacht, vornehmlich aus historischer Erfahrung heraus?

Vad: Gewalt spielt leider immer noch in den internationalen Beziehungen und mit Blick auf die empirische Realität eine große Rolle in der Welt. Wir wollen das einfach nicht mehr aus unserer Historie heraus. Wir wollen politisch vermitteln. Militärische Optionen sehen wir daher eher als „ultima ratio“, als allerletztes Mittel politischen Handelns. Aber das hat seine Grenzen. Der Balkankonflikt wurde auch erst mit der Entsendung von Truppen beendet. Wir Deutschen haben totale Probleme mit der Androhung und Anwendung von Gewalt.

Was ist aus Ihrer Sicht notwendig?

Vad: Ein alter israelischer Freund, von dem ich auch sonst viel gelernt und erfahren habe, hat mir mal gesagt: Wir Israelis haben aus der Geschichte nur eine einzige, wichtige Lektion gelernt: Nie wieder Opfer sein! Eure Lektion, sagte er, ist: Nie wieder Täter sein! Aber bei allem Verständnis: Das dürft ihr nicht übertreiben, sonst scheitert ihr in der Geschichte zum zweiten Mal! Wir brauchen hier einfach eine neue, innere Balance. Das richtige Maß zwischen den deutschen Extremen eines überkommenen Militarismus und des heutigen, übermächtigen Pazifismus. Es wirkt abstrakt, aber es ist in der Tat das Kernproblem in Deutschland, wenn es um Fragen wie Sicherheit und Verteidigung geht.

Fehlen uns in Deutschland starke Politikerpersönlichkeiten in der Sicherheitspolitik ?

Vad: Solche Typen wie Helmut Schmidt fehlen schon. Der hätte als Bürgermeister bei den bürgerkriegsähnlichen G-20 Krawallen in Hamburg sicherlich nicht in der Philharmonie gesessen, sondern im Schanzenviertel von vorne geführt. Seine Führungsstärke beispielsweise bei der Hamburger Flutkatastrophe, gegenüber der RAF und bei der Flugzeugentführung in Mogadischu sowie mit Blick auf den NATO-Doppelbeschluss war einmalige Klasse. Ich denke auch an die politische Führungsstärke des damaligen grünen Außenministers Joschka Fischer bei der Durchsetzung der deutschen Beteiligung an den Luftoperationen der NATO gegen Serbien im Jahre 1999. Er ist nicht einfach der Mehrheitsmeinung in seiner Partei gefolgt, sondern hat sie gedreht und politisch von vorne geführt. Später sein deutliches Nein zum Irakkrieg der USA : das war deutsche Führungsstärke in der Sicherheitspolitik, auch, wenn man das politisch anders bewerten mag.

Fehlt der Politiker-Typus Joschka Fischer heute ?

Vad : Eine schwierige Frage. Viele Politiker von heute sind so austauschbar geworden. Man erkennt oft nicht den inneren Kompass, der sie leitet. Vielen fehlt der auch einfach und es reicht ihnen die Rolle des „Parteisoldaten“. Das führt beim Bürger schon zu einem gewissen Frust. Dann ist starke politische Führung angesichts von Koalitionsregierungen in Deutschland nicht einfach. Man muss aufpassen, dass man keine Regierungskrise auslöst. Wenn wir beispielsweise ein Schiff in die Hormus-Straße an die Seite der Amerikaner geschickt hätten, dann hätte Donald Trump getwittert : Wunderbar, die Deutschen sind wieder an Bord ! Das hätte uns sicherlich viel Druck an anderen politischen Fronten genommen. Die Amerikaner hauen uns das zwei Prozent-Ziel der NATO ja auch deswegen dauernd um die Ohren, weil sie genau wissen, dass unsere Bundeswehr überhaupt nicht einsatzbereit ist. Die sehen doch, was hier läuft. Und sie haben selbst 35000 Soldaten hier stationiert, noch mehr Zivilangestellte und zahlen für die Sicherheit Europas aus eigener Tasche und sehen, dass da ein wichtiger Bündnispartner wie Deutschland wenig mitmacht.

Sie waren jahrelang Militärberater der Bundeskanzlerin. Warum lässt Angela Merkel eine mögliche Beteiligung der Deutschen Marine zur Sicherung der Seewege in der Straße von Hormus einfach laufen?

Vad: Na ja, die Regierung könnte das Schiff entsenden. Sie müsste den Einsatz im Bundestag nachmandatieren, die Debatte aushalten, unter Umständen die Sommerpause unterbrechen und die Mehrheit bekommen in der Abstimmung. Und wenn sie die nicht bekommt, dann hat sie ein politisches Problem. Militäreinsätze anzuordnen ist in Deutschland immer eine politische Risikofahrt. Ich war mit der Bundeskanzlerin mehrfach in den kritischen Regionen dieser Welt. Wenn man da mit Tod und Verwundung konfrontiert wird und die Diskussion in der Heimat sieht, das wirkt alles nach. Unsere Soldaten haben in Afghanistan gekämpft wie im Krieg, und wir haben gleichzeitig hier eine typisch deutsche Grundsatzdiskussion geführt, ob das tatsächlich Krieg ist oder nicht.

Was kommt nach Angela Merkel im Management internationaler Krisen?

Vad: Wir müssen nur eine größere internationale Krise bekommen, dann werden wir wissen, was wir an Angela Merkel haben. Es gibt keinen, der international so viel Gewicht hat und vor allem anerkannt ist wie sie. Ich war ja oft bei Gesprächen dabei, wo sie immer und sehr schnell die intellektuelle Luftherrschaft hatte – um mal einen militärischen Terminus zu bemühen. Angela Merkel wird international gehört. Da ist innenpolitisch sicher nicht alles richtig gelaufen in den letzten Jahren. Aber sagen Sie mir bitte : welche Person soll unser Land nach ihr führen? Da mache ich mir Sorgen, gerade, wenn es nicht um Klimawandel, sondern die harten Themen wie Sicherheit und Verteidigung geht. Da braucht es starke Politiker mit einem klaren, inneren Kompass. Helmut Schmidt war und ist da für mich immer Vorbild.