Professor Jäger, wer gewinnt die US-Wahl?
Interview zur US-Wahl Politologe Jäger: „Die Amerikaner sind es gewohnt, belogen zu werden“
KÖLN · Der Kampf ums Weiße Haus: Politikwissenschaftler Thomas Jäger über die Präsidentschaftswahl in den USA.
Wird Donald Trump wiedergewählt – oder macht Joe Biden das Rennen? Wir sprachen mit dem Politikwissenschaftler Professor Thomas Jäger über die US-Präsidentschaftswahl.
Thomas Jäger: Der Kandidat, der am Ende mehr als 270 Wahlmännerstimmen hat (lacht). Das wollten Sie jetzt nicht hören, ich weiß. Aber es ist nach wie vor offen, wer gewinnt.
Liegt Biden denn nicht vor Trump?
Jäger: Hier in Deutschland wird oft so getan, als wäre Biden schon durch. Aber das stimmt nicht. Es ist richtig, Joe Biden liegt landesweit zehn Prozent vorne. Aber er ist besonders stark in den Staaten, in denen er sowieso die Wahlmänner gewinnt. Das ist in den USA wie beim Fußball. Man hat überhaupt nichts davon, ein Spiel 7:0 zu gewinnen, besser ist es, sich in sieben Spielen mit 1:0 durchzusetzen. Biden wird in Kalifornien etwa 30 bis 35 Prozent Vorsprung haben. Aber wie viel Vorsprung er hat, ist letztlich egal.
Es kommt also auf die umkämpften Bundesstaaten wie Florida an.
Jäger: Ja, in den Swing States liegt Biden zwar auch vier Prozent vorne, aber wenn wir vier Jahre zurückblicken: Bei der Wahl 2016 führte Hillary Clinton mehr als fünf Prozent. Aus dieser Gemengelage, den Unsicherheiten, die es aus der personalisierten Wahlwerbung von Trump gibt, den Überraschungen, würde ich sagen: Das ist noch nicht durch.
Biden setzt in erster Linie auf einen Anti-Trump-Wahlkampf.
Jäger: Ja, das hängt damit zusammen, dass die Demokraten kein wirklich einheitliches Wahlprogramm haben. Sie haben sich in den vergangenen vier Jahren erheblich nach links bewegt. Aber damit ist die Partei auch heterogener geworden. Und Joe Biden ist sozusagen der rechteste Kandidat, den sie überhaupt hätten wählen können. Der ist überhaupt nicht mehr richtig in der Partei verankert. Joe Biden ist nicht die Demokratische Partei, Joe Biden ist der, der den Übergang zur nächsten Generation ebnen soll, indem er enttäuschte Trump-Wähler zurückgewinnt.
Das klingt nicht wie eine Machtübernahme.
Jäger: Ohne Corona wäre Joe Biden nie Kandidat geworden. Die Linke hat sich in der Demokratischen Partei einfach nicht organisiert. Sanders und Warren nahmen sich gegenseitig die Stimmen weg. Wäre einer ausgeschieden, gäbe es einen linken Kandidaten. Biden hat nur eine Wahl wirklich gewonnen, die in North Carolina. Aber dann musste man sich wegen der Pandemie schnell einigen, die Reihen schließen, um Trump zu besiegen.
Was sagt es über Amerika aus, wenn zwei Männer zur Wahl stehen, die mit über 70 eigentlich längst in Rente sein könnten?
Jäger: Ehrlich gesagt, würden wir die ihnen auch wünschen, die Rente. Das hat man sich natürlich schon öfter gefragt: In den USA leben 330 Millionen Menschen. Warum wählen sie gerade die zwei aus?
Ihre Erklärung?
Jäger: Die Demokraten haben Biden gewählt, weil er mit dem Argument kam, ich bringe enttäuschte Trump-Wähler zurück. Aber die Partei brennt nicht für Biden. Trump ist, anders als Biden bei den Demokraten, in seiner Partei unangefochtener Anführer. Sein schlechtester Zustimmungswert lag bei 86 Prozent. Jetzt sind es 96 Prozent. Die Republikaner sind Trumps Partei.
Aber nochmal, warum gibt es keine jungen Anwärter?
Jäger: Es gibt ja eine ganze Reihe von jungen Kandidaten, die da nachkommen. Wenn Sie noch mal auf das Feld der Vorwahlen bei den Demokraten zurückblicken. Etwa Pete Buttigieg, der ist 37. Ihm hat aber dann das Standing gefehlt. Andrew Yang war ein anderer Kandidat, der mit dem bedingungslosen Grundeinkommen Wahlkampf gemacht hat. Auch ein interessanter Kopf. Bei den Republikanern kann man gegen Trump derzeit hingegen nichts werden, auch wenn man jung und geschickt ist.
Welche Aussagekraft haben Umfragewerte überhaupt noch?
Jäger: Also vor vier Jahren waren sie eine Katastrophe. Jetzt heißt es, die sind an die Erfahrungen von 2016 angepasst worden. Ehrlich gesagt, wir wissen es alle erst nachher.
Die Umfragen verraten also so gut wie nichts über den voraussichtlichen Wahlausgang?
Jäger: Ich will ein Argument nennen, warum ich die Umfragewerte skeptisch betrachte. In den Vereinigten Staaten gehen immer nur rund die Hälfte der Bürger wählen, vor vier Jahren waren es 55 Prozent. Das heißt also, wenn man in den Swing States bei ganz knappen Ergebnissen drei, vier, fünf Prozent an Nicht-Wählern mobilisieren kann, dann kriegt man die Stimmen für den Sieg zusammen. Das trägt zur Polarisierung bei. Denn angesichts dieser großen Zahl an Nicht-Wählern ist es für die Wahlkampfstrategen völlig ineffektiv, jemanden von der anderen Partei überzeugen zu wollen. Man versucht hingegen, diejenigen zur Wahl zu bringen, die bisher noch nicht gewählt haben, aber den eigenen Ansichten nahestehen. Oder zumindest die andere Partei ablehnen. Also die Mobilisierung des eigenen Lagers ist der Weg zum Sieg. Und da kommt auch die Skepsis der Demokraten her: Kann Biden die linken jungen Wähler mobilisieren?
Trump scheint hingegen alles halbwegs unbeschadet überstehen zu können: Skandale, Unwahrheiten, Vertuschungen. Woran liegt das?
Jäger: Ich würde von Trump zunächst wegzoomen. Die Amerikaner haben generell eine hohe Distanz zu ihrem politischen System. Das Parlament hat eine Vertrauensrate, die derzeit bei 13 Prozent liegt. Die Präsidentschaft als Institution wird überhaupt nur von 30 Prozent mit Zustimmung bedacht. Das hat damit zu tun, dass die Amerikaner gewohnt sind, von ihrem Präsidenten nach Strich und Faden belogen zu werden. Bush und der Irak-Krieg, Clinton und Lewinsky, Vater Bush und der Kuwait-Krieg. Die Amerikaner erwarten gar nichts anderes, als immer wieder belogen zu werden.
Also ziehen Trump und die Macht der Lüge?
Jäger: Die meisten Amerikaner denken, dass Politiker korrupt sind. Dann kommen so Geschichten wie bei Trump – nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert... Der redet nicht um den heißen Brei. Mit seinen Lügen kommt er bei seinen Anhängern so gut weg, weil er das authentisch rüberbringt. „Der lügt. Na und. Wie jeder vor ihm“, das ist die Quintessenz.
Was wäre, wenn Trump seine Niederlage ignoriert?
Jäger: Grundsätzlich gibt es drei mögliche Wahlausgänge. Entweder gewinnen Biden oder Trump haushoch. In beiden Fällen würde das Ergebnis rasch nach dem 3. November feststehen. Dann gibt es am 20. Januar einen Präsidenten. Der dritte Ausgang ist das Problem. Wenn es knapp wird, werden beide Seiten jedes juristische Mittel einsetzen, um die Wahl anzufechten.
Das heißt?
Jäger: Das heißt – und das bereitet Trump ja schon die ganze Zeit vor – dass bei Briefwahlen ganz genau hingeschaut werden muss. Die Swing States werden am 3. November möglicherweise für den einen oder anderen Kandidaten ausgerufen. Dann werden in den darauffolgenden Tagen die ganzen Briefwahlunterlagen ausgezählt. Da laufen derzeit immer noch Klagen, wie lange überhaupt gezählt werden darf. Was am 2. November, also rechtzeitig, abgestempelt ist, wird wohl noch bis zum 17. November ausgezählt. Aber das ist in jedem Staat etwas anders organisiert. Mit diesem Szenario werden wir einen ganz langen Prozess erleben.
Die Demokraten fordern vom US-Postchef eine schriftliche Garantie zur Briefwahl.
Jäger: Ja, weil davon auszugehen ist, dass mehr Wähler der Demokraten per Briefwahl stimmen. Eine Möglichkeit ist: Gibt es am 3. November ein republikanerfreundliches Ergebnis, wird es mit dem Auszählen der Briefwahlstimmen immer demokratischer. Dann kommt es darauf an: Welches Ergebnis wird genommen? Das vom 3. November? Oder zählt man bis zum 8. Dezember aus? Was, wenn das Ergebnis dann noch umstritten ist? Denn das ist letztlich der Stichtag, an dem die Ergebnisse gemeldet werden müssen. Es wird einen Prozess nach dem anderen geben, wenn es eng wird. Dann geht es um ein paar Tausend Stimmen.
Welche Rolle spielt da das höchste US-Gericht?
Jäger: In der Regel ist es so, dass die 538 Wahlleute bestimmt sind und die dann auch jemanden wählen. Es könnte aber auch sein, dass irgendein Staat sagt, wir können nicht sagen, wie das Ergebnis ist, dann sind es weniger Wahlleute oder das Parlament der Bundesstaaten bestimmt sie. Und da haben in sechs Swing States die Republikaner die Mehrheit. Da begeben wir uns jetzt aber schon in Fahrwasser, wo die Juristen selbst noch nicht wissen, wie das Ergebnis aussieht. Aber letztlich ist das der Weg der Anfechtung.
Und Trump?
Jäger: Also, was hier so diskutiert wird, Trump verbarrikadiert sich im Oval Office und lässt keinen mehr rein, das ist Quatsch. Das wird vor Gericht ausgefochten. Da wird es seriöse Gründe geben müssen und dann ist es auch möglich, dass irgendeine Entscheidung vor dem Supreme Court landet.
Läuft alles glatt, dann...
Jäger: ...dann werden am 6. Januar die Wahlleutestimmen in Washington ausgezählt. Gibt es keinen Kandidaten, der über 270 Stimmen erringt, wird im Repräsentantenhaus der Präsident gewählt und im Senat der Vize-Präsident.
„Make America Great Again“ – lautet Trumps berühmter Slogan. Wie fällt seine Bilanz aus?
Jäger: Wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte, dann wäre Trumps Ausgangsposition richtig gut. Die Wirtschaft hat gebrummt, die Löhne sind gestiegen, es gab die geringste Arbeitslosigkeit seit Jahren.
Bis Corona kam.
Jäger: Ja, man muss sozusagen mit der Wirtschaft anfangen, um Trumps Pandemiepolitik zu verstehen. Trump läuft sich Anfang 2020 für den Wahlkampf warm. Dann denkt er, das Virus müssen wir jetzt klein reden. Dieses Virus darf mir jetzt meine Wirtschaft nicht kaputtmachen. Und so hat er relativ früh die Entscheidung getroffen: Wirtschaft geht vor Gesundheit. Und diese Entscheidung hat er über seine eigene Krankheit hinaus durchgehalten. Das finden zwei Drittel der Amerikaner eine Katastrophe.
Selbst die Republikaner geben Fehler im Umgang mit Corona zu.
Jäger: Ja, und das Drittel, also diejenigen, die es nicht katastrophal finden und die damit immer noch einverstanden sind, das ist sozusagen der Kern seiner Anhängerschaft. Das sind diese 36 bis 38 Prozent an Wählerstimmen, die er sowieso immer bekommt.
Hat Trump gerade bei den Älteren mit seiner Corona-Politik Stimmen verloren?
Jäger: Das ist eine spannende Frage. Von den Umfragen her sieht es genauso aus. Als ob die Älteren sagen, das ist Politik auf unsere Kosten.
Welche Rolle spielen Umweltthemen im Wahlkampf?
Jäger: Auf demokratischer Seite spielen sie keine herausgehobene Rolle, weil sie sich nicht drauf einigen können. Das Beispiel, an dem man es am besten sehen kann, ist Fracking. Die Mehrheit der Partei will Fracking, also die unkonventionelle Gas- und Ölförderung, verbieten. Biden will keine neuen Genehmigungen erteilen. Jetzt eiern sie alle rum und würden am liebsten gar nicht drüber reden. Die Republikaner haben das Thema auch zurückgestellt. Trump sagt einfach nur „Unser wirtschaftlicher Fortschritt ist die beste Klimapolitik“.
Trump hat diverse globale Handelskonflikte angezettelt. Wird sich das unter Biden entspannen?
Jäger: Ja und Nein. Ja, denn es wäre entspannter, weil man anders miteinander reden würde. Nein, weil in der Sache die Demokraten, keine freihändlerischere Politik machen würden als Trump. Sondern möglicherweise einen anders gestrickten Protektionismus verfolgen.
Was will Biden außenpolitisch?
Jäger: Ein großer Unterschied ist, dass Biden den Wert der Nato sofort weit höher setzen würde als das Trump tut. Biden würde keine freundliche Russlandpolitik machen. Biden würde auch eine konfrontative China-Politik fahren, er würde die Europäer ebenso unter Druck setzen, das mitzumachen. Das wäre kein Unterschied. Neben der Nato wäre der größte Unterschied, dass Biden zurück ins Pariser Klimaabkommen gehen würde. Er würde auch den Wert multilateraler Verfahren höher schätzen als Trump.
Wie sieht seine innenpolitische Abgrenzung zu Trump aus?
Jäger: Also innenpolitisch ist das große Thema die Krankenversicherung. Die Republikaner versuchen ja auf allen möglichen Wegen die sogenannte Obama Care auszuhebeln. Die Demokraten wollen eigentlich mehrheitlich eine staatliche Krankenversicherung. Was beide wohl machen würden, sind Infrastrukturprogramme. Biden würde bestimmte Einkommen höher besteuern. Die Demokraten würden viele Deregulierungen zurücknehmen, die unter Trump erfolgt sind, was Umwelt- und Sozialstandards angeht. Und die Demokraten würden versuchen, eine andere Einwanderungspolitik zu machen. Plus die Anerkennung der so genannten Dreamer, der Menschen, die als Kinder illegal in die USA eingereist sind. Wenn man es zusammenfassen will, ist es alles, was sich Obama so vorgenommen hat.
Fake News haben mit Trump Fahrt aufgenommen, sind aber im linken Lager auch verbreitet.
Jäger: Verschwörungserzählungen sind in den USA besonders sichtbar, weil dort das Vertrauen in die Institutionen so gering ist. Viele Menschen suchen nach irgendeiner Erklärung, wie das, was sie erleben und erfahren, miteinander zusammenhängt. Die Bürger wollen verstehen, was da passiert, aber es wird nicht erklärt. Das ist übrigens bei uns nicht anders: Wenn Politik nicht erklärt wird, stoßen andere Anschauungen in diese Lücke und geben simple Erklärungen zum Besten.
Ausgerechnet ihre Freiheit hat viele Amerikaner zu Ideologen gemacht?
Jäger: Zumindest ist diese Spaltung nirgendwo so stark in eine mediale Polarisierung geführt worden. Diese Polarisierung hat in den vergangenen 20 Jahren Echokammern geschaffen, in denen man sein Weltbild richtig aushärten konnte. Und dann überhaupt nicht mehr versteht, wie man so denken kann wie andere – und zwar die Nachbarn – denken. Das hat die Meinungsbildung in den USA angetrieben und auch dazu geführt, dass immer extremere Kandidaten in den Parteien gewählt wurden.
Also ist der letzte Rest Gemeinsinn aufgezehrt?
Jäger: Die Polarisierung wird in den nächsten Jahren bestehen bleiben. Demokraten und Republikaner kennen kaum mehr Gemeinsamkeiten, sprechen häufig sogar eine andere Sprache. Bei der Wahl des Führungspersonals geht es gewöhnlich eben nicht mehr darum, jemanden auszuwählen, der in der Mitte Wähler gewinnt, sondern jemanden vom Rand zu nehmen, der die eigene Mannschaft mobilisiert. So hat Obama gewonnen, so hat Trump gewonnen. Biden ist so ein Kandidat, der in dieses Bild eigentlich nicht reinpasst.
Wie demokratisch sind die USA?
Jäger: Sehr demokratisch. Aber eben mit einer eigenen Ausprägung. Trump wird ja immer wieder als kleiner Diktator hingestellt. Wenn dem so wäre, wäre er der erste Diktator, der über das Parlament nicht bestimmen kann, den die Medien den ganzen Tag kritisieren und den Strafverfolgungsbehörden und die eigenen Geheimdienste skeptisch sehen. Die Institutionen in den USA funktionieren. Er hat freilich präsidentielle Macht und nutzt sie. Aber das ist nicht undemokratisch. Das haben die Präsidenten vor ihm auch gemacht. Aber gefährlich ist, dass Trump sagt, die Wahlen sind korrupt, die Gegenseite sind Feinde, die anderen sind unamerikanisch, sie wollen unser Land zerstören. Wenn das die eigenen Leute glauben, dann hat die Demokratie ein ernstes Problem. Deshalb gibt es Befürchtungen, wie es nach einem knappen Wahlergebnis weitergeht.
Was würden Sie sich für Amerika wünschen?
Jäger: Für die USA wäre es gut, eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen, die wirtschaftliche Spreizung zu verringern und die vielen Waffen abzuschaffen. Aber das ist nicht realistisch, sondern nur ein frommer Wunsch aus dem alten Europa.