Energie Machtwort statt Kompromiss: Scholz zieht Reißleine im Ampel-Streit

Eigentlich wollte der Kanzler darauf verzichten, Streit in seiner Regierung quasi per Dekret zu schlichten. In der Atomfrage blieb ihm nun kaum etwas anderes übrig. Oft kann sich die Ampel-Koalition so etwas aber nicht leisten.

Der Bundeskanzler hat ein Machtwort gesprochen.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

„Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt.“ Oft ist Kanzler Olaf Scholz in den ersten zehn Monaten seiner Amtszeit vorgeworfen worden, er werde diesem selbst formulierten Anspruch nicht gerecht. Zu zögerlich, zu unentschlossen agiere er in einer der schwersten Krisen, die die Bundesrepublik je erlebt hat, hieß es. Jetzt hat Scholz den Streithähnen der Grünen und der FDP mit einer Wucht Führung verpasst, dass in der Ampel-Koalition die Wände wackeln.

Weil Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) sich nicht auf einen Kompromiss bei den Laufzeiten der letzten drei Atomkraftwerke einigen konnten, hat der Kanzler einfach selbst entschieden. Er kann sich dabei auf Artikel 65 Absatz 1 des Grundgesetzes und Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung berufen. „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik. (...) In Zweifelsfällen ist die Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen“, heißt es da.

Es knirscht nicht nur, es scheppert

Scholz hat diese Richtlinienkompetenz nun in einer Art und Weise ausgeübt, wie er es eigentlich nie tun wollte. „Es ist gut, dass ich sie habe. Aber natürlich nicht in der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe: „Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende““, hatte Scholz am 11. August in seiner ersten Sommerpressekonferenz über die Richtlinienkompetenz gesagt. Im Atomstreit hat er nun genau so einen Brief geschrieben, um den Weiterbetrieb aller drei noch verbliebenen Atomkraftwerke bis zum 15. April zu ermöglichen. Wenn es so etwas überhaupt schon mal gegeben haben sollte, dann nur in absoluten Ausnahmefällen.

Das Machtwort des Kanzlers sagt viel über den Zustand dieser Koalition aus. Die Aufbruchsstimmung aus der Anfangszeit ist längst verflogen, es knirscht nicht nur in der Koalition, es scheppert - auch an anderen Stellen. Nach der für die FDP völlig verkorksten Niedersachsen-Wahl haben sich die Spannungen nun entladen. Angesichts der festgefahrenen Positionen blieb Scholz eigentlich kaum eine andere Wahl, als so zu handeln, wie er es tat.

Gesichtswahrende Lösung für Habeck und Lindner

Habeck und Lindner haben ihr Gesicht gewahrt, weil sie ihre Positionen nicht aufgeben mussten. Die Koalition hat damit aber auch bewiesen: Sie ist nicht in der Lage, für alle schwierigen Fragen Kompromisse zu finden. Das beschädigt das Vertrauen innerhalb des Bündnisses. Ob auch das Vertrauen der Bürger in diese Koalition Schaden nimmt, werden die nächsten Umfragen zeigen.

Scholz dürfte jedenfalls bewusst sein, dass das Machtwort als Ersatz für den Kompromiss nur eine Ultima ratio sein kann, kein Standardinstrument seines Regierungshandelns. Der Kanzler sei klug genug, die Richtlinienkompetenz „nicht inflationär zu nutzen“, sagte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich am Dienstag. „Aber in bestimmten Momenten, wo die Menschen in Deutschland Sicherheit erwarten, muss der Bundeskanzler auch eine solche Entscheidung treffen.“

FDP sieht sich als Gewinner

Die Reaktionen auf die Ansage des Kanzlers bei FDP und Grünen fielen unterschiedlich aus. Als erster meldete sich fast gleichzeitig mit Bekanntwerden des Kanzler-Briefs Lindner zu Wort, der volle Unterstützung zusagte. Die Entscheidung sei im vitalen Interesse des Landes und der Wirtschaft, schrieb er. Dass mit dem AKW Emsland in Niedersachsen eine dritte Anlage über den Winter am Netz bleibe, sei ein wichtiger Beitrag für Netzstabilität, Stromkosten und Klimaschutz. Auch Generalsekretär Bijan Djir-Sarai beanspruchte mit einem Tweet einen liberalen Erfolg: „Auf Druck der FDP wurde diese Entscheidung möglich gemacht!“

Kaum verkennbar: Die zuletzt in der Wählergunst gebeutelten und mit den Ampel-Partnern ringenden Liberalen wollen zeigen, dass sie sich als Gewinner dieser Auseinandersetzung mit den Grünen sehen. Dabei haben die Liberalen nicht alles erreicht: Die AKW sollen nun nicht, wie gefordert, bis ins Jahr 2024 laufen, und es werden keine neuen Brennstäbe beschafft. Wie sich dies auf einen wichtigen erhofften Effekt - eine Preisdämpfung auf dem Strommarkt - auswirkt, wird zu beobachten sein. Immerhin sei aber die Debatte „gedreht“ worden, heißt es. Die Jungen Liberalen schrieben schon gleich: „Wir wünschen uns darüber hinaus noch weitere Schritte - vor allem die Nutzung der Kraftwerke über den April 2023 hinaus.“

Die Grünen wollen reden

Auf den Kanzler-Brief folgt bei den Grünen erstmal Schweigen. Eine Stunde lang ist kein Mucks zu vernehmen. „Wir werden dazu Gespräche führen“, lässt Co-Parteichefin Ricarda Lang dann in äußerster Nüchternheit wissen. Auch die Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge kündigen Gespräche innerhalb der Fraktion an. Es sei „bedauerlich“, dass Scholz und die SPD offenbar bereit seien, das AKW Emsland in den Reservebetrieb zu nehmen, „obwohl es sachlich und fachlich dafür keinen Grund“ gebe, erklären die beiden säuerlich. Immerhin: „Klar ist jetzt, dass keine neuen Brennstäbe beschafft werden und alle deutschen AKWs bis spätestens zum 15.04.2023 endgültig vom Netz gehen.“

Warum die Grünen dem Koalitionspartner FDP die Chance geben, ein Ergebnis, das sich so dicht an ihren Forderungen bewegt, als liberalen Sieg zu verkaufen? Es liegt an ihrer Diskussionskultur. Am Ende tragen Partei und Fraktion selbst schwierigste Entscheidungen mit - aber übergehen darf die eigene Führung sie nicht. Und selbst ohne diesen Hauch von Stuhlkreis: Kein Parteichef könnte ein Kanzler-Dekret bejubeln, das zumindest in Teilen einem nur drei Tage zuvor gefassten Parteitagsbeschluss zuwider läuft.

Trittin: „Politisch außerordentlich fragwürdig“

In Bonn hatten die Grünen-Delegierten noch Habecks Idee von einem möglichen Weiterbetrieb der zwei süddeutschen AKW grünes Licht gegeben, unter Ausschluss des AKW Emsland. Nun schäumt der Co-Chef der Grünen Jugend, Timon Dzienus, über des Kanzlers „Basta-Politik“, und der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin sagt dem ZDF: „Die Entscheidung ist fachlich nicht gerechtfertigt, sie ist nicht durch den Stresstest gedeckt, sie ist politisch außerordentlich fragwürdig.“

Bei allem Unmut: Am Ende wird nicht erwartet, dass die Grünen-Bundestagsabgeordneten die Umsetzung des Beschlusses verhindern werden - aber wohl nicht ohne ein paar Nein-Stimmen und Enthaltungen. Und es sieht auch nicht danach aus, dass die rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Niedersachsen wegen des Weiterbetriebs des AKW Emsland in Gefahr geraten.

Merz: „Vorletzte Pfeil, den der Regierungschef im Köcher hat“

Der einzige Gewinner des Ampel-Streits ist am Ende die Opposition. Die schlachtete die Uneinigkeit der Ampel in der Atomfrage am Dienstag genüsslich aus. CDU-Chef Friedrich Merz grub ein Zitat des früheren SPD-Chefs Franz Müntefering aus, der gleich zu Beginn der Regierungszeit von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit der SPD als Juniorpartner erklärte, dass die Richtlinienkompetenz aus seiner Sicht nicht funktioniert. „Die Anwendung der Richtlinie, die ist nicht lebenswirklich. Wer das macht in einer Koalition, der weiß, dass die Koalition zu Ende ist“, sagte Müntefering damals, im Oktober 2005.

Zwar sei die Ampel jetzt noch nicht am Ende, fuhr Merz fort. „Aber die Inanspruchnahme der Richtlinienkompetenz auf diesem geradezu förmlichen Weg ist der vorletzte Pfeil, den der Regierungschef im Köcher hat, wenn es darum geht, seine Koalition zu disziplinieren.“

(dpa)