Martin Schulz in Gelsenkirchen: "AfD ist eine Schande für die Bundesrepublik"
Martin Schulz wirkt auf der Zielgeraden des Wahlkampfs freier und selbstgewisser als in den Monaten zuvor - und trifft einen pathetischen Tonfall, der nicht mehr peinlich ist.
Gelsenkirchen. Wenn das nur so einfach wäre: „Autoritäre Nationalist*innen umschulzen“, laden die Jusos zum Konterfei-Dosenwerfen quer durch die Weltpolitik ein. Später, nachdem der laut Ansage „künftige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland“ die von Ordnern abgespannte Gasse durchschritten und das Rednerpult auf dem Heinrich-König-Platz erreicht hat, wird er sagen: „Da muss man klar Position beziehen. Ihre Politik, Herr Trump, wird niemals die Politik der Bundesrepublik Deutschland werden.“
Manchmal braucht der härteste Wahlkämpfer Orte, an denen die Welt noch in Ordnung ist. Zumindest die sozialdemokratische Welt. Martin Schulz ist nach Gelsenkirchen gekommen. Das Hans-Sachs-Haus liegt in Sichtweise und dort hat bis auf das fünfjährige Intermezzo von Oberbürgermeister Oliver Wittke (CDU) seit 1946 die SPD das Sagen. Im Rat gibt es eine 50,2-prozentige Mehrheit. Mit der Hälfte davon wäre Schulz am Sonntag vermutlich schon zufrieden.
Aber heute ist nicht Sonntag, heute ist Mittwoch. Noch vier Tage. Zielgerade oder Endspurt wird das gerne genannt. Auf dem Platz zwischen evangelischer Altstadt- und katholischer St. Augustinuskirche könnte man auch sagen: Die Messe ist schon gelesen. Nicht für Martin Schulz. Er kämpft - natürlich bis „Sonntag, 18 Uhr. Aber wir kämpfen nicht aus Selbstzweck. Wir kämpfen für unsere Prinzipien. Wir kämpfen für Sie, für Euch!“
Schulz hat sein rührseliges Betroffenheits-Tremolo abgelegt. Das tut seinem Auftritt gut. Natürlich, es geht weiter um die junge Pflegerin, der die höchsten Beiträge und die niedrigste Rente drohen; um den Polizisten, um die Erzieherin und um den Installateur, die unmöglich bis 70 arbeiten können. Aber der Tonfall ist jetzt so empört, wie manche Umstände ja in der Tat empörend sind.
Und während sich der Buchhändler aus Würselen da wieder zum Anwalt der kleinen Leute macht, münzt er so beiläufig wie geschickt auch seine in der langen Wahlkampfzeit erlittenen Verletzungen in einen Sieg um. Er listet die „Peepshow-Analysen“ über sich auf. Was hat er alles lesen müssen: über sein fehlendes Abitur, seine Glatze, seinen Bart, seine Anzüge von der Stange („Was übrigens stimmt“), seinen Charme eines Eisenbahnschaffners. „Mir ist das egal“, lügt er, weil das öffentliche Zerpflücken niemandem egal ist. Um dann loszudonnern, dass ihn die Haltung dahinter aufrege: „Was ist eigentlich schlecht an einem Eisenbahnschaffner, was ist schlecht an einem Sparkassenangestellten?“ Schulz hätte auch sagen können: Ihr akademischen Schnösel, was bildet ihr euch eigentlich ein?
In Gelsenkirchen versteht man ihn auch so. Verdienter Punktsieg für mehr gesellschaftlichen Respekt - und für ihn.
Schulz legt sich ins Zeug, um den Eindruck des TV-Duells zu verwischen, es gebe zwischen ihm und Merkel doch gar nicht so viele Unterschiede. Er spricht vom „konservativen Block“ Merkel/Seehofer, der die Verschärfung der Mietpreisbremse verhindert habe und den Rechtsanspruch von Frauen, aus dem Teilzeit- wieder in den Vollzeitjob zu wechseln.
Schulz fordert „gerade in der Stadt der Arbeiter“: „Das tarifgebundene, unbefristete Arbeitsverhältnis muss wieder der Normalfall auf dem deutschen Arbeitsmarkt werden.“ Und er wettert über die Stahlfusion von Thyssen-Krupp und Tata Steel, dass der künftige Sitz nur deswegen in den Niederlanden liegen solle, um die deutsche Montanmitbestimmung zu umgehen. „Das neue Unternehmen muss seinen Sitz in Deutschland haben!“
Und dann sind da noch „diese Typen“. Diese Höckes und Gaulands. Und ihre erinnerungspolitische Wende um 180 Grad. Wahrscheinlich ist Schulz’ Pathos nirgendwo authentischer als an dieser Stelle, als er sich auf die SPD und ihren Widerstand gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz beruft, auf diese „Heldinnen und Helden“, denen nun offenbar die ihnen gebührende Ehre verweigert werden solle. „Die AfD ist keine Alternative für Deutschland, sondern eine Schande für die Bundesrepublik - und wir sind eure Gegner.“
Auf diesem emotionalen Level gleitet er mühelos zur europäischen Idee hinüber, dieser Idee, „der ich mein politisches Leben gewidmet habe“. Der Idee der grenzübergreifenden Zusammenarbeit, weil die Antworten auf die globale Vernetzung „europäisch sein werden und nicht national“. Da perlen die großen Wörter nur so aus ihm hervor: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Stabilität.
Mag sein, dass auch Martin Schulz glaubt, dass die Messe schon gelesen ist. Aber wenn, dann verbirgt er es gut — als hätten ihn all die Abgesänge freier gemacht und selbstgewisser. Als er seine Rede beendet hat, begibt er sich noch auf Augenhöhe mit dem Publikum. Und wie er jetzt so da unten steht, wirken die drei Großbuchstaben neben der Bühne plötzlich noch ein bisschen größer als vorher. Es sind die Buchstaben, S, P und D.