Abwehr gegen Angriffe aktiviert Nato droht Russland bei Chemiewaffen-Einsatz mit „schwerwiegenden Konsequenzen“

Brüssel · Die Nato hat Russland im Fall eines Einsatzes von Massenvernichtungswaffen im Ukraine-Krieg mit harten Konsequenzen gedroht. Mit massiver Aufrüstung will das Bündnis reagieren. Eine Abwehr gegen mögliche Angriffe mit chemischen oder sogar Atomwaffen sei aktiviert worden.

Ergebnisse des Nato-Sondergipfel: Aufrüstung und Warnungen an Russland.

Foto: dpa/The Canadian Press

Die Nato hat Russland im Fall eines Einsatzes von Massenvernichtungswaffen im Ukraine-Krieg mit harten Konsequenzen gedroht. "Jegliche Verwendung chemischer oder biologischer Waffen durch Russland wäre inakzeptabel und würde schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen", heißt es in der am Donnerstag in Brüssel veröffentlichten Abschlusserklärung des Nato-Sondergipfels. Ähnlich hatte sich zuvor bereits US-Präsident Joe Biden geäußert.

Die G7-Staaten haben Russland wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine weitere Sanktionen angedroht. "Wir sind bereit, gegebenenfalls zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen; dabei werden wir weiterhin in Einigkeit handeln", erklärten die G7-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag in ihrer Abschlusserklärung zum Gipfeltreffen in Brüssel.

Die Staats- und Regierungschefs erklärten auch, sie würden "keine Mühe scheuen", um den russischen Präsidenten Wladimir Putin "sowie die Planer und Unterstützer dieser Aggression, einschließlich des Regimes von (Alexander) Lukaschenko in Belarus, für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen". Zu diesem Zweck würden die G7-Staaten "weiter zusammenarbeiten, gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern auf der ganzen Welt".

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg fügte nach dem Gipfel hinzu, die Militärführung habe auch für das Bündnisgebiet die Abwehr gegen mögliche Angriffe mit chemischen, biologischen oder sogar Atomwaffen aktiviert. "Wir ergreifen Maßnahmen, um die Ukraine zu unterstützen, aber auch zum Selbstschutz", sagte Stoltenberg.

Die Nato-Staaten wollen mit massiver Aufrüstung auf Russlands aggressive Politik reagieren. Angesichts „der seit Jahrzehnten schwerwiegendsten Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit“ werde man das Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv erheblich stärken und das gesamte Spektrum an einsatzbereiten Streitkräften und Fähigkeiten weiterentwickeln, heißt es in einer gemeinsamen Gipfelerklärung der Staats- und Regierungschefs vom Donnerstag. Diese Schritte würden durch „erweiterte Übungen“ mit dem Schwerpunkt kollektive Verteidigung und der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Streitkräfte ergänzt.

Die Staats- und Regierungschefs weisen zudem auf bereits umgesetzte Maßnahmen zur Stärkung der Abschreckung hin. So wurden in Reaktion auf das Vorgehen Russlands in der Ukraine die Verteidigungspläne der Nato aktiviert, Elemente der Nato-Reaktionskräfte verlegt und an der Ostflanke 40 000 Soldaten sowie Luft- und Seefähigkeiten dem direkten Kommando der Nato unterstellt. Derzeit werden zudem kurzfristig vier zusätzliche multinationale Gefechtsverbände in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn eingerichtet.

„Der unbegründete Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt eine grundlegende Herausforderung an die Werte und Normen dar, die allen Menschen auf dem europäischen Kontinent Sicherheit und Wohlstand gebracht haben“, heißt es am Ende der Erklärung zum Sondergipfel in Brüssel. „Wir bleiben einig und entschlossen in unserem Willen, der Aggression Russlands entgegenzutreten, der Regierung und den Menschen in der Ukraine zu helfen und die Sicherheit aller Verbündeten zu verteidigen.“

Präsident Wladimir Putin und den anderen Verantwortlichen für den Krieg gegen die Ukraine werden zudem Konsequenzen angedroht. „Wir werden mit dem Rest der internationalen Staatengemeinschaft zusammenarbeiten, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen einschließlich Kriegsverbrechen zu verantworten haben“, erklären die Staats- und Regierungschefs.

Mit mehreren Spitzentreffen in Brüssel will die westliche Staatengemeinschaft im Ukraine-Krieg Geschlossenheit demonstrieren. Auf den Tag genau vier Wochen nach dem russischen Angriff auf das Nachbarland kamen am Donnerstag die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten zu einem Sondergipfel zusammen. Danach standen dort auch Gipfeltreffen der Siebener-Gruppe wichtiger demokratischer Industrieländer (G7) und der Europäischen Union (EU) an. In der Ukraine gingen unterdessen die heftigen Gefechte weiter.

Für die Beratungen der Staats-und Regierungschefs war auch US-Präsident Joe Biden nach Europa gekommen. Auf Befehl von Staatschef Wladimir Putin hatte Russland in der Nacht zu Donnerstag, 24. Februar, das Nachbarland angegriffen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief von Kiew aus Menschen weltweit zu Protesten gegen den Krieg auf. „Kommen Sie im Namen des Friedens, kommen Sie mit ukrainischen Symbolen, um die Ukraine, die Freiheit und das Leben zu unterstützen!“, sagte er in einer nachts verbreiteten Videoansprache.

Selenskyj: Ukraine hat bei Nato Panzer angefordert

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will von der Nato mehr Unterstützung. Seinen Angaben zufolge hat sein Land bei dem Bündnis mindestens 200 Panzer angefordert. „Sie haben mehr als 20 000 Panzer. Die Ukraine hat um ein Prozent gebeten“, sagte er in einer Videoschalte zum Nato-Gipfel. Kiew würde sie auch kaufen. „Wir haben bisher keine klare Antwort“, beklagte der 44-Jährige. Ähnlich sehe es bei den angeforderten Flugzeugen und Abwehrsystemen für Raketen aus. „Ich bitte darum, Ihre Einschätzung zu ändern und an die Sicherheit in Europa und in der Welt zu denken“, appellierte Selenskyj.

Verstärkte Luftangriffe in der Ukraine

In der Ukraine verstärkte Russland nach Angaben des ukrainischen Militärs seine Luftangriffe. Binnen 24 Stunden habe man mehr als 250 Einsätze registriert, hieß es im Morgenbericht des ukrainischen Generalstabs am Donnerstag. Am Vortag seien es 60 weniger gewesen. Die Hauptziele seien weiterhin Einrichtungen der militärischen und zivilen Infrastruktur in den Gebieten Kiew, Tschernihiw und Charkiw. Moskau gibt dagegen an, nur militärische Ziele anzugreifen.

Der russischen Luftwaffe sei es in einem Monat nicht gelungen, Luftüberlegenheit am Himmel über der Ukraine herzustellen, sagte ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums in Washington. Die USA und ihre Verbündeten arbeiteten daran, den Ukrainern Luftabwehrsysteme mit großer Reichweite zu beschaffen. Die Ukrainer setzten aber ihre derzeit vorhandenen Systeme „sehr effektiv“ ein.

Am Boden veränderten sich die Fronten kaum, die ukrainische Armee hielt nach eigenen Angaben ihre Stellungen. Im Osten und Nordwesten der Hauptstadt Kiew sei es gelungen, russische Einheiten abzudrängen. Auch britische und US-amerikanische Quellen im Sicherheitsapparat bestätigten Gegenangriffe der Ukrainer bei Kiew. In der Hafenstadt Berdjansk wurde nach ukrainischen Angaben ein russisches Landungsschiff zerstört. Dies ließ sich nicht unabhängig überprüfen.

In der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw wurden nach örtlichen Polizeiangaben seit Beginn des Krieges 294 Zivilisten getötet. 15 von ihnen waren Kinder. Aus der umkämpften Hafenstadt Mariupol im Süden berichtete eine inzwischen geflohene Einwohnerin von dramatischen Zuständen. „Hunderte Leichen lagen auf der Straße“, schrieb die Frau namens Olena der Deutschen Presse-Agentur über einen Messengerdienst. In einem Massengrab seien tote Zivilisten und Soldaten beigesetzt worden. „Die Stadt Mariupol gibt es nicht mehr“, schrieb die vor wenigen Tagen aus der Stadt geflohene Frau.

Energie mit Rubeln bezahlen - oder gleich boykottieren?

Beim EU-Gipfel in Brüssel galt es als wahrscheinlich, dass ein Solidaritätsfonds für die Ukraine beschlossen wird. Zuletzt hatten die EU-Staaten beschlossen, die Mittel für Ausrüstungslieferungen an die ukrainischen Streitkräfte auf eine Milliarde Euro zu verdoppeln. Einen noch etwas größeren Betrag stellen die USA für Waffen zu Verfügung.

Unter Zugzwang setzte Kremlchef Putin die Europäer mit der Ankündigung, Gas nicht mehr für Euro oder Dollar, sondern nur noch gegen Rubel zu verkaufen. Sollten Kundenländer wie Deutschland darauf eingehen, würde das die russische Währung stützen. Die strikten Sanktionen gegen die russische Zentralbank würden unterlaufen. Damit verstärkte sich die Debatte über einen raschen Boykott russischer Energielieferungen, auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dies bislang ablehnt.

Biden wolle mit den Europäern Schritte verkünden, wie Europa mit US-Hilfe weniger abhängig von Gas, Öl und Kohle aus Russland werden könne. Das kündigte sein Sicherheitsberater Jack Sullivan vor Journalisten auf dem Flug nach Europa an, wie die „New York Times“ berichtete. Dabei gehe es darum, kurzfristig Öl und Gas verfügbar zu machen und auch langfristig neue Lieferanten zu finden.

Die EU-Kommission bereite sich auf einen möglichen Lieferstopp von russischem Gas im kommenden Winter vor, sagte Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis im EU-Parlament. „Wir überprüfen Szenarien für eine teilweise und volle Unterbrechung von Gasflüssen aus Russland nächsten Winter.“

Mehr Flüchtlinge aus der Ukraine

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks haben seit Kriegsbeginn rund 3,7 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Kein Land hat so viele Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen wie das Nachbarland Polen. In Deutschland wurden bis Donnerstag 246 154 Kriegsflüchtlinge erfasst. Innerhalb eines Tages seien rund 7200 Menschen dazugekommen, teilte das Bundesinnenministerium mit. Tatsächlich dürfte die Zahl höher ein. Im Regelfall gibt es keine festen Kontrollen an den EU-Binnengrenzen; Ukrainer dürfen zudem ohne Visum einreisen.

(dpa/AFP)