#twitternwierueddel Pflegeplan: Das Versagen der Groko in sechs Zeilen
Ein Tweet zum Groko-Pflegeplan löst Empörung aus. Der Fall zeigt beispielhaft, warum mancher Kompromiss bloß Murks ist.
Berlin/Neuwied. Was die mögliche neue große Koalition zum Thema Pflege zu sagen hat, umfasst ganze sechs Zeilen im Vertragsentwurf der künftigen Regierung: „Wir verbessern spürbar die Pflege: Sofortprogramm Pflege mit 8000 neuen Fachkraftstellen und besserer Bezahlung. ,Konzertierte Aktion Pflege’ mit besserem Personalschlüssel und Ausbildungsoffensive für Pflegerinnen und Pfleger. Abbau finanzieller Ausbildungshürden bei der Pflegeausbildung. Unterstützung von Kindern pflegebedürftiger Eltern: Kein Rückgriff auf Einkommen bis 100.000 Euro im Jahr. Stärkung ambulante Alten- und Krankenpflege im ländlichen Raum.“
Ein schöner Erfolg, fand der rheinland-pfälzische CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Rüddel (62) und verkündete bei Twitter, das sei ein „notwendiger Erfolg für Pflegende und Pflege: Die Pflegenden erhielten in Krankenhäusern und Pflegeheimen personelle Unterstützung „bei guter Bezahlung“, aber Patienten und Pflegebedürftige würden nicht zusätzlich belastet.
Als ihn ein pensionierter Pflegedirektor darauf hinwies, dass es gar keine Pflegekräfte gebe und selbst osteuropäische Kräfte einen großen Bogen um das deutsche System machten, twitterte Rüddel zurück: „#Deal: Politik handelt konsequent und #Pflegende fangen an, gut über die #Pflege zu reden. Dann kommen viele wieder in die Pflege zurück und es beginnen #gutezeitenfürgutepflege“.
Seit diesem Tweet kennt jede Pflegekraft in Deutschland den Namen des neuen Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses im Bundestag. Zu Hunderten schilderten Pflegerinnen und Pfleger aus Krankenhäusern, Heimen und von mobilen Pflegediensten unter dem Hashtag #twitternwierueddel in teils erschütternden Kurznachrichten, in welchem Zustand sich die Pflege wirklich befindet — und verweigerten Rüddel die Beteiligung an der Schönrednerei.
Rüddel ruderte erschreckt zurück: Sein Tweet habe keine Anschuldigung gegenüber den Pflegekräften sein sollen. Die Reaktionen „zeigen allerdings, wie sensibilisiert die Menschen in der Pflege sind“. Inzwischen feiert Rüddel den Koalitions-Kompromiss wieder als tolle Leistung. Und auch Noch-Gesundheitsminister Hermann Gröhe twitterte in Sachen Pflege mehrfach: „Was wir im Wahlkampf versprochen haben, haben wir in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt!“
Gröhe hält sich zugute, dass in seiner Amtszeit seit 2013 die Leistungen für Pflegebedürftige um rund 12 Milliarden Euro und damit um fast die Hälfte gestiegen sind. Diese Pflegepolitik werde man jetzt entschlossen fortsetzen, „um Pflegekräften und pflegenden Angehörigen weiter den Rücken zu stärken“.
Was 8000 zusätzliche Stellen in der Wirklichkeit bedeuten, beschrieb Claus Fussek, einer der bekanntesten deutschen Pflegekritiker, in einem Interview mit dem Sender n-tv jüngst so: „Stellen Sie sich vor, es ist Hochwasser in Passau. Die Rettungskräfte sagen, wir brauchen 80 000 Sandsäcke, sonst säuft die Stadt ab. Und die Politik sagt: Okay, wir haben es verstanden, wir schicken euch 8000. Übertragen auf die Pflege meine ich damit: Da kommt ein Viertel-Pfleger zusätzlich auf jedes Heim. Was soll das?“
Die Gewerkschaft Verdi beziffert den Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften auf 70 000. Je nach Einschätzung fehlen innerhalb des nächsten Jahrzehnts sogar mehr als 200 000 Vollzeitkräfte, was in der Wirklichkeit mehr als einer halben Million Menschen entspricht. Altenpfleger verdienen 30 Prozent weniger als Krankenpfleger, gut die Hälfte der Pflegeeinrichtungen sind gewinnorientierte Privatunternehmen. Nach 1995 wurden aus Kostengründen 50 000 Stellen abgebaut.
Bevor der angehende Krankenpfleger Alexander Jorde Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer ARD-Sendung zur der Bundestagswahl mit seinem Berufsalltag konfrontierte, spielte die „tagtäglich tausendfach verletzte Menschenwürde“ im Wahlkampf keine Rolle.
Die Pflege-Katastrophe ist nur ein Beispiel aus den Koalitionsvereinbarungen, wie die Kompromisse des Groko-Papiers an den Realitäten vorbei gehen. Neu ist, dass beiden Koalitionären nicht nur von den Betroffenen, sondern auch aus der eigenen Mitgliederschaft inzwischen der Wind der Ablehnung ins Gesicht bläst. Egal ob Sozial- oder Wirtschaftsverbände, fast auf allen Themenfeldern lautet die Kritik gleich: zu wenig, zu kurz gesprungen, zu unentschlossen, das meiste weder Fleisch noch Fisch.
Erwin Rüddel dagegen ist schon wieder ganz in der Berliner Sprechblase angekommen: „Gerade mit Blick auf den Alltag und die konkrete Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort in unseren Kommunen wurden wichtige Unions-Forderungen durchgesetzt“. Und „Erwin Rüddel“, so haben seine Büro-Mitarbeiter für die heimische Presse gedichtet, „zeigt sich zufrieden mit den Ergebnissen.“ Das ist aus Sicht vieler Wähler wahrscheinlich ein Teil des Problems.